Gezwungen

[478] Gezwungen. (Schöne Künste)

Der Zwang entsteht allemal aus einer fremden außer der Sache, die dadurch modificirt wird, liegenden, oder ihr nicht natürlichen Kraft oder Ursache. Ein gezwungenes Lächeln oder Freundlichthun ist das, was aus der uns einleuchtenden gegenwärtigen Gemüthsfaßung eines Menschen nicht folgen kann, sondern aus einer fremden Ursache wider den guten Willen, oder wider die Natur angenommen ist; gezwungene Manieren in dem Betragen der Menschen sind die, von denen wir eine, der gegenwärtigen [478] Lage der Sachen fremde, das natürliche Betragen unterdrükende oder zurükhaltende Ursache zu entdeken vermeinen. Das Gezwungene thut allemal in irgend einem Stük unserer Vorstellungskraft Gewalt an; wir glauben zu fühlen, daß die Sache nicht so seyn sollte, und daß eine fremde Kraft oder Ursache die natürliche Beschaffenheit der Dinge verändert habe. Es ist eine Lüge, die man uns für eine Wahrheit aufdringen will. Wir nennen in der Handlung des Drama dasjenige Gezwungen, was unserm Vermuthen nach aus der Lage der Sache nicht so kommen kann. Insgemein entdeken wir zugleich, daß der Dichter Absichten gehabt hat, die er durch einen natürlichen Lauf der Handlung nicht erreichen konnte, und die ihn veranlaset haben, den Sachen Gewalt anzuthun.

Das Gezwungene ist überall anstößig, weil es einen Streit in unsrer Vorstellung verursachet, und weil man gezwungen wird, sich die Sachen anders vorzustellen, als es die Gründe, die wir vor uns haben, fodern. Darum gehört es in den Werken der Kunst unter die wesentlichsten Fehler. Was gefallen, oder sonst auf eine Weise in die Vorstellungskraft dringen soll, daß es sich derselben gleichsam einverleibet, muß völlig ungezwungen seyn: der Wille läßt sich noch eher zwingen, als der Verstand, der schlechterdings keinen Zwang zuläßt.

Also hat sich ein Künstler für nichts sorgfältiger in Acht zu nehmen, als vor dem Gezwungenen. Es entsteht allemal daher, daß man seinen eigenen Vorstellungen und Empfindungen Zwang anthut, so wie in unsern Handlungen und Reden dasjenige Gezwungen wird, was wir ungerne, gegen unsre Sinnesart und Empfindung, äussern wollen. Der Philosoph, der sich vorgenommen hat einen Satz zu beweisen, dessen Wahrheit er nicht deutlich einsieht, ist genöthiget seine Vernunftschlüsse gleichsam mit Gewalt nach dem vorgesetzten Ziel einzulenken; und dadurch werden sie Gezwungen. Eben so geht es dem Dichter, der in der Epopee oder in dem Drama einen gewissen Ausgang der Sachen vorher festsetzet, ehe er deutlich sieht, daß die Sachen sich zu demselben entwikeln können. Dadurch wird er verleitet, ihnen irgendwo eine unnatürliche und gewaltsame Lenkung zu geben. Auch fällt man gemeiniglich in das Gezwungene, wenn man sich selbst zur Arbeit zwingen muß, ehe der Geist oder die Empfindung von dem Gegenstande völlig eingenommen und dadurch in die nöthige Würksamkeit gesetzt worden. Wer ohne den Beystand der Muse oder gar gegen ihren Wink arbeiten will, wird gewiß in das Gezwungene fallen.

Wer es vermeiden will, muß nie arbeiten, bis er ganz von seinem Gegenstand eingenommen, einen wahren inneren Trieb empfindet, aus der Fülle seiner Vorstellungen dasjenige heraus zu suchen, was nach Wahl und Ueberlegung das Natürlichste und Schiklichste ist. Die Leichtigkeit, womit er in einem solchen Zustand arbeitet, wird ihn vor dem Gezwungenen bewahren. Hiernächst muß man sich nie ein Ziel völlig fest setzen, bis man den Weg, der dahin führet, würklich vor Augen sieht. Der Künstler muß dahin gehen, wohin seine Materie ihn lenkt, und nie fremde Absichten haben, zu deren Erreichung er seinem Stoff etwas ihm nicht zugehöriges einzumischen nöthig hätte. Je mehr ein Mensch seine eigenen Gedanken und Empfindungen genau zu beobachten gewohnt ist, je leichter wird es ihm, ungezwungen und natürlich zu seyn. Nur den besten Genien gelinget es, das Gezwungene, wo es den Umständen nach unvermeidlich ist, zu verbergen, und ihm den Schein des Leichten oder Natürlichen zu geben.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 478-479.
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