Kunstgriff

[627] Kunstgriff. (Schöne Künste)

Ein feines Mittel den Zwek zu erhalten, oder eine Schwierigkeit zu heben, ohne eine nothwendig scheinende Unvollkommenheit zuzulassen. Bey Verfertigung eines Werks von Geschmak können sich Schwierigkeiten von verschiedener Art zeigen, die sich nicht alle beschreiben lassen; daher sind auch die Kunstgriffe mannigfaltig. Der Künstler, dem es an Genie und Schlauigkeit fehlt, Kunstgriffe zu erfinden, wird selten glüklich seyn. Eigentlich sind [627] die Kunstgriffe da nöthig, wo der gewöhnliche Gang der Kunst entweder nicht weiter reichen, oder wo er natürlicher Weise in einen Fehler führen würde. Daher es zwey Hauptarten der Kunstgriffe giebt, solche, die durch ungewöhnliche Wege forthelfen, und solche wodurch man den Fehlern aus dem Wege geht.

Von der ersten Art ist der Kunstgriff des Virgils das Elend der Andromache zu erheben. Er wollte das Mitleiden für sie aufs höchste treiben, aber geradezu konnte er sie nicht unglüklicher machen, als sie nach unsrer Empfindung schon war. Daher bedient er sich eines Kunstgriffs, daß er die Polyxena, deren Unglük das größte ist, was man erdenken kann, gegen sie als glüklich vorstellt.


O felix una ante alias Priameia virgo

Hostilem ad tumulum Troiæ sub mœnibus altis

Jussa mori.1


Auf diese Weise hat auch Homer den Achilles ausserdem, was er geradezu großes von seinem Heldenmuth sagt, erhoben, da er ihn immer weit über die Größten hervorragen läßt. Dahin gehört der von den Alten so gelobte Kunstgriff des Timanthes, der in dem Gemählde der Aufopferung der Iphigenia, den Menelaus das Gesicht unter dem Mantel verbergen lassen, weil er jede Art der Empfindung auf den andern Gesichtern schon erschöpft hatte.2 Auf diese Weise verfahren die Mahler: wenn sie das Licht nicht höher treiben können, und doch ein höheres Licht nöthig haben; so verdunkeln sie das übrige und erhalten dadurch eine Erhöhung, die unmittelbar nicht zu erhalten war.

Als ein Beyspiel eines Kunstgriffs der andern Gattung, kann die Art angeführt werden, wie Euripides in der Phädra die heimliche Leidenschaft dieser Königin an den Tag bringt, ohne ihrem Charakter zu nahe zu treten, und ohne die Wahrscheinlichkeit zu beleidigen. Er setzt voraus, daß sie sich vorgenommen habe, ihr Geheimnis mit sich ins Grab zu nehmen. Man hätte aber vorher aus ihren Reden schließen müssen, daß sie einen großen Haß gegen ihren Stiefsohn Hippolitus habe. Daher sagt die Hofmeisterin ganz natürlich, du wirst durch deinen Tod machen, daß der Amazonin Sohn über deine Kinder herrschen wird; sie thut noch einige verächtliche Worte über den Hippolitus hinzu, und dadurch verräth die Königin ganz natürlicher Weise, was sie für ihn fühlt. Hiebey hat Euripides den den Kunstgriff gebraucht, wodurch Eresistratus den Grund der Krankheit des Antiochus des Seleuci Sohn entdekt hat.3

Der dramatische Dichter hat vornehmlich solche Kunstgriffe nöthig, um die Auflösung des Knotens natürlich zu machen. Und es würde für die dramatische Kunst sehr vortheilhaft seyn, wenn sich jemand die Mühe gäbe, aus den besten Werken die Kunstgriffe zu sammlen und deutlich an den Tag zu legen. In der Musik sind die enharmonischen Rükungen eigentliche Kunstgriffe, um schnell aus einem Ton in einen ganz entlegenen herüber zu gehen.4 Die Mahlerey hat mancherley Kunstgriffe die Haltung und Harmonie hervorzubringen.

Die wahren Kunstgrisse sind allemal ein Werk des Genies, und nicht der eigentlichen Kunst; die ihre Erfindung nur erleichtert, indem sie die Anwendung und den Gebrauch dessen, was das Genie entwirft, möglich macht.

1Aen. III. 321.
2S. Plin. Hist. Nat. L. XXXV. c. 10.
3S. Plut. im Leben des Demetrius.
4S. Enharmonisch.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 627-628.
Lizenz:
Faksimiles:
627 | 628
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika