Mannigfaltigkeit

[741] Mannigfaltigkeit. (Schöne Künste)

Die Abwechslung in den Vorstellungen und Empfindungen scheinet ein natürliches Bedürfnis des zu einiger Entwiklung der Vernunft gekommenen Menschen zu seyn. So angenehm auch gewisse Dinge sind, so wird man durch deren anhaltenden, oder gar zu ofte wiederholten Genuß erst gleichgültig dafür; bald aber wird man ihrer überdrüßig. Nur die öftere Abwechslung, das ist die Mannigfaltigkeit der Gegenstände, die den Geist, oder das Gemüth beschäftigen, unterhält die Lust, die man daran hat. Der Grund dieses natürlichen Hanges ist leicht zu entdeken: er liegt in der innern Thätigkeit des Geistes; aber er zeiget sich erst nachdem der Mensch zu einigem Nachdenken über sich selbst gekommen ist und das Vergnügen würksam zu seyn, ofte genossen hat. Halb wilde Völker, wie diejenigen[741] Americaner, die nicht über drey zählen1, können einen ganzen Tag Gedankenlos sizen und auf ihren Pfeifen denselben Ton tausendmal wiederholen, ohne Langeweile zu fühlen.

Dieser Hang zur Abwechslung trägt sehr viel zur allmähligen Vervollkommnung des Menschen bey; denn sie unterhält und vermehret seine Thätigkeit und verursachet eine tägliche Vermehrung seiner Vorstellungen, die eigentlich den wahren innern Reichthum des Menschen ausmachen. Ob gleich die Liebe des Mannigfaltigen aus der innern Würksamkeit entstehet, so wird im Gegentheil diese durch jene wieder verstärkt. Je mehr man die Lust abgewechselter und mannigfaltiger Vorstellungen genossen hat, je stärker wird das Bedürfnis folglich das Bestreben die Anzahl derselben zu vermehren. Daher kommt es, daß der Mensch allmählig jedes innere und äußere natürliche Vermögen, jede Fähigkeit brauchen lernt; daß er sich allmählig dem Zustande der Vollkommenheit nähert, um alles zu werden, dessen er fähig ist.

Da die Werke der schönen Künste nothwendig unterhaltend seyn, und in allen Theilen der Vorstellungskraft neuen Reiz geben müssen2; so muß in der Menge der Dinge, die jedes Werk uns darbiethet, auch eine hinreichende Mannigfaltigkeit seyn. Alle Künstler von Genie haben sie in ihren Werken gezeiget, jeder nach dem Maaße der Fruchtbarkeit seines Genies. In der Ilias ist des Streitens unendlich viel und immer abgewechselt; die Helden, deren besonders Meldung geschieht, sind kaum zu zählen; aber jeder ist genau und in allem, was zum Charakter gehört, von jedem andern verschieden.

Die Mannigfaltigkeit aber, die gefallen soll, muß sich in Gegenständen finden, die eine natürliche Verbindung unter sich haben. Es ist eben so verdrießlich jede Minute des Tages eine neue, mit der vorhergehenden nicht verbundene Beschäftigung zu haben, als jede Minute dasselbe zu wiederholen. Eine beträchtliche Sammlung einzeler unter sich gar nicht zusammenhangender Gedanken, deren jeder schön und wichtig wäre, würde ein Buch von großer Mannigfaltigkeit des Inhalts ausmachen, das Niemand lesen könnte. Darum muß ein Faden seyn, an dem die Menge der verschiedenen Dinge so aufgezogen sind, daß, nicht eine willkührliche Zusammensezung, sondern eine natürliche Verbindung unter ihnen sey. Das Mannigfaltige muß als die immer abgeänderte Würkung einer einzigen Ursache, oder als verschiedene Kräfte, die auf einen einzigen Gegenstand würken, oder, als Dinge von einer Art, deren jedes durch seine besondere Schattirung ausgezeichnet ist, erscheinen. Je genauer die Dinge bey ihrer Mannigfaltigkeit zusammenhangen, je feiner ist das Vergnügen, das sie verursachet.

Diese Mannigfaltigkeit muß überall wo vieles vorkommt beobachtet werden. Der gute Historienmahler läßt uns nicht nur Personen von verschiedenen Gesichtsbildungen sehen; auch in ihren Stellungen, in den Verhältnissen ihrer Gliedmaaßen, in ihren Kleidungen, beobachtet er eine gefällige Abwechslung. Der Dichter begnüget sich nicht an der Mannigfaltigkeit der Gedanken, er beobachtet sie auch im Ausdruk, in der Wendung, in dem Rhythmus, dem Ton und andern Dingen. Der Tonsezer sorget nicht blos für die gefällige Abwechslung des Tones, auch die Harmonien auf ähnlichen Stellen, und die Folge der Töne werden verschieden.

Es denke kein Künstler ohne Genie, wenn er von Mannigfaltigkeit sprechen höret, daß es dabey auf eine Zusammenraffung vielerley Gedanken und Bilder ankomme. Die Menge und Verschiedenheit der Sachen so zu finden und zu wählen, daß jede zum Zwek dienet, und am rechten Orte steht; daß die Menge nicht nur keine Verwirrung mache, sondern als ein Ganzes, dem nichts kann benommen werden, erscheine, erfodert wahres Genie und einen sichern Geschmak. In den Werken der Künstler, denen diese beyden Eigenschaften fehlen, wird man entweder Armuth an Gedanken, oder eine unschikliche Zusammenhäufung solcher Vorstellungen, die sich nicht zu einander schiken, antreffen. So sieht man in den Werken einiger Tonfezer, entweder, daß sie durch ein ganzes Stük denselben Gedanken, immer in andern Tönen wiederholen, daß die ganze Harmonie auf zwey oder drey Accorden beruhet; oder im Gegentheil, daß sie eine Menge einzeler, sich gar nicht zusammenpassender Gedanken hinter einander hören lassen. Nur der Tonsezer, der das zu seiner Kunst nöthige Genie. hat, weiß den Hauptgedanken in mannigfaltiger Gestalt, durch abgeänderte Harmonien unterstüzt, vorzutragen, und ihn durch mehrere ihm untergeordnete, aber genau damit zusammenhangende Gedanken, so zu verändern, daß das Gehör von Anfang bis zum Ende beständig gereizt wird. [742] Es ist vorher angemerkt worden, daß der Mangel an Mannigfaltigkeit Armuth des Genies verräth. Könnte nicht hieraus in gewissen Fällen eine Regel zur Beurtheilung des Genies einer ganzen Nation gezogen werden? Würde man z.B. nicht schließen können, daß die Nation, bey der gewisse Werke der Kunst durchaus immer einerley Form haben, wie wenn alle Wohnhäuser nach einerley Muster aufgeführet; alle Comödien nach einerley Plan eingerichtet; alle Oden in einem Ton angestimmt, und nach einer Regel ausgeführt wären u. d. gl. daß dieser Nation das Genie zur Baukunst, zur Comödie, zur Ode noch fehlet?

1S. Condamines Reise längst dem Amazonenfluß.
2S. Werke der Kunst.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 741-743.
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