Mittelstimmen

[770] Mittelstimmen. (Musik)

Sind in einem Tonstük die Stimmen, welche ausser dem begleitenden Basse den Hauptgesang durch harmonische Ausfüllungen begleiten. Denn in vielstimmigen Sachen, da jede Stimme ebenfalls eine Hauptmelodie hat, würde dieser Name unrecht den zwischen dem Baße und dem Discant liegenden Stimmen gegeben werden. Die Mitelstimmen haben nie eine nach allen Theilen ausgearbeitete Melodie. Zwar ist es allemal ein großer Mangel, wenn sie ganz ohne Gesang und für sich bestehenden Ausdruk sind; aber ihre Melodie muß sehr einfach seyn, damit sie den Hauptgesang, den sie gleichsam nur von weitem begleiten, nicht verdunkeln mögen.

Die Hauptmelodie ist allemal das Wesentliche des Tonstüks,1 nach ihr der Baß, der die Harmonie leitet; die Mittelstimmen müssen aus der Harmonie, oder Folge der Accorde die schiklichsten Töne zur Unterstüzung des Gesanges nehmen. Sind sie selbst ohne alle Melodie und nur aus einzelen, zwar in der Harmonie richtigen, aber unter sich nicht zusammenhangenden Tönen, zusammengesezt; ist darin nichts von Takt und Rhythmus, so leisten sie auch wenig Hülfe, und es wär in solchem Fall eben so gut, daß die Hauptstimme blos durch den Generalbaß begleitet würde. Zu dem kommt noch, daß in solchem Falle, diejenigen, welche die Mittelstimmen spiehlen, den Ausdruk des Stüks nicht empfinden, folglich nicht einmal, wie es seyn sollte, ihn durch guten Vortrag unterstüzen können.

Also ist nothwendig, daß jede Mittelstimme einen mit der Hauptmelodie im Charakter übereinstimmenden Gesang habe, der höchst einfach sey. Nur da, wo die Hauptstimme entweder pausirt, oder aushaltende Töne hat, ist den Mittelstimmen erlaubt, einige eigene Säze, oder Gedanken vorzutragen, wenn es nur auf eine Art geschieht, die dem Hauptgesang keinen Abbruch thut. Man nihmt in die Mittelstimmen diejenigen zur vollen Harmonie gehörigen Töne, die weder der Baß noch die Hauptstimme haben. Aber einem bessern Gesang dieser Mittelstimmen zu gefallen, wird auch wol ein solcher Ton weggelassen, und dagegen ein anderer verdoppelt. [770] Dieses muß vornehmlich in Mittelstimmen, die deutlich gehört werden, bey Leittönen, die darin vorkommen, beobachtet werden. Darum ist in folgenden Beyspielen

Mittelstimmen

das erste und zweyte, da das Subsemitonium in der Mittelstimme seinen natürlichen Gang über sich nihmt, den beyden andern, da die Töne mannigfaltiger sind, vorzuziehen.

Es ist eine Hauptregel, daß die Mittelstimmen sich in den Schranken ihrer Ausdähnung halten, und nicht über die Hauptstimme in der Höhe heraustreten; weil diese dadurch würde verdunkelt werden. Auch muß man sich nicht einfallen lassen, einen Gedanken in der Hauptstimme abzubrechen, und seine Fortsezung einer Mittelstimme zu überlassen.

Ueberhaupt gehöret mehr, als bloße Kenntnis der Harmonie zu Verfertigung guter Mittelstimmen. Ohne feinen Geschmak und scharfe Beurtheilung werden sie entweder zu einem die Melodie verdunkelnden Geräusch, oder zu einem gar nichts bedeutenden Geklapper.

Die beste Würkung thun die Mittelstimmen, in denen die zur Vollständigkeit der Harmonie nöthigen Töne auch zugleich eine singbare Melodie ausmachen. Am reinesten klinget die Harmonie, wenn die Töne in den Mittelstimmen so vertheilt sind, daß alle gegen einander harmoniren. So klinget z.B.

dieser Accord

Mittelstimmen

weit besser als dieser:

Mittelstimmen

weil hier wegen der an einander liegenden Töne f und g eine Secunde gehört wird. Unangenehm werden die Mittelstimmen, wenn die Harmonie, wie bisweilen in den Werken großer Harmonisten, die gerne ihre Kunst zeigen wollen, geschieht, zu sehr mit Tönen überhäuft ist. Daher lassen bisweilen gute Melodisten in Arien, die vorzüglich einen gefälligen Gesang haben sollen, die Bratsche mit dem Baß im Unisonus gehen. Wie die Mittelstimmen zu Arien zu behandeln seyen, kann man am besten aus den Graunischen Opern sehen.

Keinen geringen Vortheil zieht man aus den Mittelstimmen in gewissen Stüken daher, daß eine derselben die Bewegung richtig bezeichnet, wenn sie durch die Melodie, wie ofte geschieht, nicht deutlich angezeiget wird. Davon giebt die Graunische Arie aus der Oper Cleopatra: Ombra amata etc. ein schönes Beyspiel. Die Hauptmelodie hat einfache aushaltende Töne, die den Gesang höchst pathetisch machen, die Mittelstimmen aber geben die Bewegung an.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 770-771.
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