Singstück

[1079] Singstück.

Diesen Namen giebt man allen Tonstüken, worin eine oder mehrere Singstimmen vorkommen, sie mögen von Instrumenten begleitet seyn, oder nicht. Die Singstimme ist in diesen Stüken die Hauptstimm, auf welche der Tonsezer sein ganzes Augenmerk richten muß. Aber nicht jedem ist es gegeben, in Singstüken glüklich zu seyn; am wenigsten denen, die selbst nicht singen können, noch das Singende in ihrer Gewalt haben. Denn hier kömmt es nicht blos auf harmonische Kenntnisse und auf den reinen Saz allein an, nicht blos auf Erfindung und richtige Anordnung mancher Säze, damit sie ein wolklingendes Ganzes ausmachen, nicht auf künstlich angebrachte Contrapuncte, sondern auf einen mit Kunst und Geschmak gesezten fließenden Gesang: Alles wodurch ein Instrumentalcomponist sich hervorthun kann, ist einem Singcomponisten, der uns rühren soll, noch nicht hinlänglich. Er muß überdem ein vorzüglich empfindsames Herz haben, das allen leidenschaftlichen Eindrüken offen steht; er muß ein Beobachter der menschlichen Leidenschaften seyn, in so fern jede sich durch ihren eignen Ton und durch die Gemüthsbewegungen, die sie hervorbringt, äußert; er muß im Stande seyn, diesen Ton und jede Gemüthsbewegung in den Worten, über welche er sezen soll, genau zu entdeken, und so deutlich in dem Gesang auszudrüken, daß seine Melodie zu einer leidenschaftlichen Sprache werde, in welcher kein Saz, keine Fortschreitung, kein Ton befindlich, der nicht, wie von der Leidenschaft erzeugt, da stehe, die überdem ein regelmäßiges Ganze sey, dem die Worte nicht den geringsten Zwang anthun; er muß auch noch ein vollkommener Deklamator seyn, und Hauptworte von Nebenworten, Hauptsäze von Nebensäzen mit ihren Unterarten schon in der Aussprache zu unterscheiden wissen. So viel wird von einem Instrumentalcomponisten, der auch ergözen kann, wenn er in seinen Stüken blos einer schwermerischen Phantasie folgt, nicht gefodert. Es ist ungleich schweerer für das Herz, als blos für die Einbildung zu arbeiten. Diese fängt bey der geringsten Veranlassung, bey ein paar auf einanderfolgenden Accorden, Feuer; jenes will gerührt seyn. Dem Singcomponisten werden zwey Hülfsmittel an die Hand gegeben, die ihm, sich des Herzens seiner Zuhörer zu bemächtigen, mächtiglich unterstüzen. Diese sind: die Worte, und die menschliche Stimme. Jedes für sich vermag oft schon viel über das menschliche Herz; thut nun noch der Tonsezer das Seinige, so wird ihm Niemand ungerührt zuhören: kein Herz wird den Eindrüken wiederstehen können, die der Zusammenfluß der Worte, des Gesanges, der menschlichen Stimme und der harmonischen Begleitung macht.

Wie es scheinet, werden zu einem vollkommenen Singstük, es sey welcher Art es wolle, folgende Stüke erfodert.

1) Es muß ohne Rüksicht auf den Ausdruk einen Charakter in der Schreibart haben, der den Worten angemessen ist. Ernsthaft im Kirchenstyl, glänzend im Kammerstyl, und affektvoll im Theaterstyl.

2) Die Singstimme oder Singstimmen müssen den Hauptgesang führen, in denen sich die vorzustellende Leidenschaft vorzüglich schildert. Wird dieser Gesang von Instrumenten begleitet, so muß er niemals durch diese verdunkelt werden, sondern sie müssen ihm nur zur Unterstüzung dienen.1

3) Unter den begleitenden Instrumenten sowol als in der Art der Begleitung, muß nach dem Ton der vorzustellenden Leidenschaft eine geschikte Auswahl getroffen werden.

4) Taktart, Bewegung und Rhythmus müssen mit der Gemüthsbewegung, die die Leidenschaft erzeugt, übereinstimmen. Es versteht sich, daß die Worte auch danach eingerichtet seyn müssen.

5) Die Melodie über den Worten muß sich in Ansehung der höhern und tiefern Töne, der steigenden oder sinkenden Fortschreitung, der Einschnitte und Abschnitte, genau nach diesen richten, und einfach seyn, damit die Worte nicht zerrissen werden.

6) Die gewöhnliche Ausdähnung der menschlichen Stimme muß in den Singstimmen nicht überschritten werden, es sey denn, daß man für Stimmen schreibe; die über die gewöhnliche Ausdähnung hinausgehen.

7) Daneben muß ein Singstük nach Beschaffenheit des Ausdruks voll von sanfter oder frappanter Modulationen, Abwechslungen des Einförmigen mit dem Mannichfaltigen, immer unterhaltend, singend, [1079] aber nicht gemein, mit Kunst gewürzt, harmonisch richtig, und ohngeachtet des Zwanges der Worte, ein vollkommenes und regelmäßiges Ganze seyn.

Was zum Ausdruk der Singstüke gehöre, davon ist schon an einem andern Ort gesprochen worden.2

Man theilet die Singstüke in solche ein, worin nur blos eine Singstimme den Hauptgesang führet; dergleichen sind Lieder, die oft auch ohne alle Instrumentalbegleitung sind, die Arien und Recitative; und in solche, wo mehrere Stimmen zusammen singen, die wiederum in solche abgetheilt werden können, wo die Stimmen gegen einander concertiren, als Duette, Terzette u. d. gl. und in solche wo die erste Singestimme den Hauptgesang hat, und von den übrigen begleitet wird, dergleichen sind Choräle, einige Motetten und Chöre. Von der Einrichtung dieser besondern Arten der Singstüke aber ist in ihren Artikeln gesprochen worden.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774.
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