Ripienstimmen

[986] Ripienstimmen. (Musik)

Vom italiänischen Worte Ripieno, welches in Tonstüken bisweilen an den Stellen geschrieben wird, wo die begleitenden Stimmen, die eine Zeitlang pausirt hatten, zum ausfüllen wieder eintreten sollen. Man nennt also in einem Tonstük, das nur eine einzige Hauptstimme, einen Hauptgesang hat, alle übrigen Stimmen, Ripienstimmen. Sie sind da, um die Würkung der Hauptstimme entweder durch harmonischen, oder durch melodischen Ausdruk zu unterstüzen, und den Gesang, oder die Hauptstimme zu heben. Daher fließen natürlicher Weise folgende Regeln, die der Tonsezer in Absicht auf diese Stimmen zu beobachten hat.

[986] Wo der Hauptgesang vorzüglich deutlich ist, und den wahren Ausdruk hinlänglich hat, müssen die Ripienstimmen die bloße Harmonie, so wie der Generalbaß, aber jeden Accord in seiner besten Lage gegen dem Hauptgesang hören lassen.1 Aber die Harmonie muß nicht zu vielstimmig und gleichsam vollgestopft seyn, weil der Gesang dadurch verdunkelt wird.

Die erste Violin muß den Hauptgesang eben nicht im Einklang, oder in der Octave mitspiehlen; geschieht es aber Terzen und Sextenweis, so bekommt der Gesang oft große Annehmlichkeit, wie aus viel Arien von Graun und Hasse zu sehen.

Vornehmlich muß darauf gesehen werden, daß diese Stimmen durch ihren melodischen Gang die Empfindungen der singenden Person schildern, und den Ausdruk der Hauptmelodie bald in geschwinden sechszehntel, bald in punktirten, bald in geschleiften, oder gestossenen Noten u. d. gl. nach dem der Ausdruk es erfodert, unterstüzen. Aber dieses muß auf eine Art geschehen, daß keine Ripienstimme die Aufmerksamkeit besonders auf sich ziehe, wodurch ein zweyfacher Gesang entstünde. Darum muß jede höchst einfach seyn, und die leichtesten natürlichsten Fortschreitungen haben. Nur in den besondern Stellen, wo der Affekt eine außerordentliche Bestrebung erfodert, können sie auf eine kurze Zeit neben dem Hauptgesang gleichsam concertirend mitarbeiten.

Wo die Empfindung einförmig fortgeht, da können an den Stellen, wo die Hauptstimme eine kurze Zeit pausirt, oder wo sie sehr einförmig, aber in kräftig ausgedrükten Tönen fortschreitet; ingleichem bey den Clauseln der Einschnitte, die Ripienstimmen kurze, dem Ausdruk gemäße Säze aus dem Ritornel, oder der Singestimme wiederholen, oder nachahmen; wenn es nur so geschieht, daß die Singestimme dadurch nicht verdunkelt wird. Dieses haben Graun und Hasse in ihren Arien gar ofte mit großem Vortheil beobachtet, und dadurch die wahre Einheit und Uebereinstimmung im Ganzen erhalten. Aber sehr ungereimt ist es bey solchen Stellen den Ripienstimmen, blos rauschende, nichtsbedeutende, oder gar dem Hauptausdruk zuwiederlaufende melodische Säze zu geben. Dadurch wird die Einheit der Empfindung aufgehoben, man höret alle Augenblike etwas anderes, und weiß am Ende des Stüks gar nicht, was man gehört hat. Dies ist der Fall darin man sich nur zu ofte befindet, wenn Tonsezer ohne Geschmak, die Kenntnis der harmonischen Behandlung für hinlänglich halten, eine gute Arie zu machen. Aus zusammengestoppelten Gedanken, deren jeder etwas anderes ausdrükt, und die ohne Ueberlegung bald in der Hauptstimme, bald in den Ripienstimmen erscheinen, kann kein Gesang entstehen, der die verständliche Sprach einer Leidenschaft schildere, sondern bloßes Geräusch.

Höchst ungereimt ist der izt ziemlich überhandnehmende elende Geschmak, den man vornehmlich in den neueren französischen Operetten antrift, da man eine Schönheit darin sucht, daß die Ripienstimmen recht viel zu arbeiten haben, und auch so wiedersinnig arbeiten, daß die Hauptstimme dabey, wie eine kahle Mittelstimme klingt. Durch ein solches verworrenes Geräusche suchen sich die Tonsezer zu helfen, denen die Natur die Gabe eines schönen Gesanges versagt hat. Man sollte denken, sie haben die Ripienstimmen zuerst gesezt, und hernach die Hauptstimme, als eine Ausfüllung hineingezwungen.

Auch zum Vortrag der Ripienstimmen, gehört viel Geschmak und Kenntnis der Harmonie und des Sazes überhaupt, und es ist gewiß, wie paradox es manchem vorkommen möchte, daß es leichter ist, ein guter Solospiehler, als ein guter Ripieniste zu seyn. Doch ist hiervon schon anderswo gesprochen worden.2

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 986-987.
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