Uebertrieben

[1194] Uebertrieben. (Schöne Künste)

Man übertreibet eine Sache, wenn man ihr etwas zuschreibet oder zumuthet, das die Schranken ihrer Art überschreitet und entweder unmöglich, oder doch unnatürlich und der Art, wozu die Sache gehört, zuwieder ist. Es wäre eine übertriebene Zumuthung von einem Menschen so viel Arbeit zu verlangen, als nur mehrere zu leisten im Stande sind; darum wär es auch übertrieben, wenn man von ihm sagte, er habe so viel Arbeit gethan. Auch das ist übertrieben, wenn man das, was einer Sache zukommt, ihr in solchem Uebermaaße beylegt, daß dadurch die Art derselben geändert, und die Würkung, die man zu vermehren gesucht hat, dadurch vermindert wird. Man sagt im Sprüchwort: wer zu viel beweißt, der beweise gar nichts; und wo des Gewürzes zu viel genommen wird, da wird die Speise dadurch wiedrig.

Es giebt also zwey Arten des Uebertriebenen; die eine macht den übertriebenen Gegenstand schimärisch, oder unmöglich; die andere verändert seine Art und benihmt ihm die Würkung, die man ihm durch Uebertreibung seiner Eigenschaften zu geben gesucht hat. Beyde Arten sind in Werken des Geschmaks sorgfältig zu vermeiden, weil sie von sehr übler Würkung sind.

Zu der erstern Art rechnen wir die abentheuerliche gigantische Größe der Helden in den Ritterromanen, da ein einziger bisweilen ganze Heere in die Flucht schlägt: von der andern Art ist unmäßiges Lob, oder Tadel, und andre unzeitige, die verlangte Würkung[1194] vielmehr hindernde als befördernde Anhäufung des Guten oder Bösen, des Angenehmen oder Wiedrigen. Wenn jemand geringer Sachen halber mit hohem Lob, oder schweerem Tadel überhäuft wird; so verfehlt das Lob oder die Rüge den Zwek, und anstatt davon gerühret zu werden, wird man verdrießlich. Ueberhaupt bestehet dieses Uebertriebene darin, daß man zu Erreichung seines Zweks mehr thut, als man thun sollte, und sein Geschüz überladet, daß es entweder zerspringt, oder sonst seine Würkung verliehret. Mancher will uns vergnügt machen, und schweift so aus, daß wir verdrießlich werden; oder er will unser Mitleiden erweken, und bewürkt nur Abscheu.

Das Uebertriebene der erstern Art, entstehet aus Mangel der Beurtheilung. Wer die Schranken, die in der Natur jeder Art der vorhandenen Dinge vorgeschrieben sind, nicht zu bemerken im Stand ist, wird von einer lebhaften Phantasie leicht verleitet, ihnen Eigenschaften anzudichten, die das Maaß ihrer Kräfte überschreiten. Es ist also fürnehmlich ein Fehler schwacher Köpfe von etwas wilder Einbildungskraft, daß sie alles über die Maaße vergrössern, oder verkleinern; weil sie die wahren Kräfte der Natur nicht kennen. Doch kann auch ein allgemeines Vorurtheil der Zeit scharfsinnige Köpfe zu diesem Uebertriebenen verleiten. Wenigstens kann man den Corneille, der die Charaktere seiner tragischen Helden sehr oft übertreibet, nicht des Mangels an Einsicht und Scharfsinn beschuldigen: aber der Geschmak seiner Zeit war noch etwas romanhaft und abentheuerlich.

Die andere Art des Uebertriebenen scheinet aus Mangel des feineren, oder des richtigen Gefühles zu entstehen. Es giebt Menschen von so schwachem Gefühl, daß ihnen kein Gegenstand in seinen natürlichen Schranken groß oder schön genug ist; sie merken nicht, daß ein Mensch betrübt ist, wenn er nicht kindisch klagt und weint; oder daß er zornig ist, wenn er nicht raset und alles um sich herum zerstöhret. Darum übertreiben sie auch alles, wenn sie andre in Empfindung sezen wollen. Ein lautes Geschrey machen, heißt bey ihnen verständlich reden; heulen nennen sie weinen; gewaltsame Sprünge und Gebehrden, sind ihnen Tanz. Hingegen ist stille Größe nach ihrem stumpfen Gefühl, Mangel an Leben; ein tiefsizender Schmerz, Unempfindlichkeit; ein sanftes, aber innigliches Vergnügen, Gleichgültigkeit. In diesem Fall artet das Uebertriebene ins Grobe und Pöbelhafte aus; denn insgemein fehlet dem Pöbel das feinere Gefühl, das Große, das mehr den innern, als den äußern Sinnen empfindbar ist, zu bemerken. Daher kommt in den Tragödien das Heulen und Wehklagen, wodurch einige rühren, das Abscheuliche in Schandthaten, wodurch sie Abscheu erweken, und das Entsezliche und Gewaltsame in den Unternehmungen, wodurch sie Furcht oder Bewundrung erregen wollen.

Das Uebertriebene kann aber auch aus einem verzärtelten Geschmak und Weichlichkeit herkommen. Wie es Menschen von stumpfem Gefühl giebt, deren Seele ein hartes Gehör hat, das nichts vernihmt, wenn man nicht übermäßig schreyt; so giebt es auch im Gegentheile solche, die den blödsichtigen gleichen, die vom hellen Tageslichte geblendet werden und nicht eher, als in der Dämmerung die Augen aufthun. Diese sind gewohnt die Sachen ins Kleine zu übertreiben, und alles so zu verfeinern, daß es seine natürliche Kraft verliehret. Es geht ihnen, wie den Wollüstlingen, die keinen Geschmak an natürlich wolschmekenden Speisen mehr haben. Sie wollen nicht vergnügt, sondern sinnlich entzükt seyn; statt einer ruhigen Empfindung der Zärtlichkeit, sehnen sie sich nach gänzlicher Zerfließung des Herzens. Deswegen suchen sie alles so sehr zu verfeinern, daß sie nur noch die Quintessenz der Dinge behalten. Daher kommt so viel übertriebener Wiz, so viel übernatürliche Spizfündigkeit der Empfindung, so viel wollüstige Künsteley in Wendung und Ausdruk, so viel sybaritische Schonung, wo das Herz mit einiger Dreistigkeit sollte angegriffen werden.

Am meisten zeiget sich diese übertriebene Verfeinerung in der gegenwärtigen Musik, besonders in den Operen, wo der einfache das Herz einnehmende Gesang gänzlich verdrängt ist und einem blos wollüstigen Küzeln des Gehöres hat weichen müssen. Es scheinet, daß mancher Sänger völlig vergessen habe, daß er die Gemüther der Zuhörer in Empfindung zu sezen habe, und daß er sein Verdienst darin suche, wie eine Nachtigal zu gurgeln, oder seine Stimme so hoch zu treiben, als ein Canarienvogel.

Dieses ist die schlimmeste Art des Uebertriebenen, weil es den Menschen allmählig des natürlichen Gefühles beraubet und ihn gewöhnt gleichsam von Luft zu leben, oder sich von Dünsten zu nähren, die doch keine Nahrung geben. Insgemein schleicht sich [1195] dieses Uebertriebene allmählig ein, nachdem die schönen Künste den höchsten Grad der Vollkommenheit erreicht haben. Denn die hernach kommenden Künstler suchen alsdenn ihre Vorgänger, die sie auf dem geraden natürlichen Weg des Geschmakes nicht mehr übertreffen können, durch allmählige Verfeinerung zu übertreffen. Darum ist es eine seltsame Erscheinung in Deutschland, daß sich die übertriebene Verfeinerung bereits hier und da äußert, ehe wir die höchste Stuffe der Vollkommenheit würklich erreicht haben. Aber wir sind nicht ohne Hoffnung, daß die Critik sich dem einreißenden Uebel noch zu rechter Zeit mit gutem Erfolg wiedersezen werde.

Man erlaubt dem comischen Dichter und dem Schauspiehler, und rathet ihnen so gar, die Sachen etwas zu übertreiben. Der Schauspiehler muß allerdings in Stimm und Gebehrden etwas auf die Entfernung, in der er von dem Zuschauer steht, rechnen; weil diese sein Spiehl etwas schwächt. Deswegen thut er wol, wenn er durchaus etwas über die Natur herausgeht, und der Zuschauer wird ihn nicht übertrieben finden, wenn er nur nicht die Gränzen zu weit überschreitet. Der Dichter scheinet nur da aus den Schranken heraustreten zu können, wo die Charaktere der Personen und die Handlung selbst etwas matt ist. So hebt das etwas Uebertriebene der Charaktere in dem Postzug das ganze Stük, das in den bloßen Schranken der Natur wenig reizen würde.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1194-1196.
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