Auge, das

[557] Das Auge, des -s, plur. die -n, Diminutivum das Äuglein, vulg. das Äugelchen, das Werkzeug des Sehens in den menschlichen und thierischen Körpern.

I. In eigentlicher Bedeutung, da es so wohl dieses Werkzeug selbst, als auch das Sehen, welches dadurch verrichtet wird, ausdrücket. Scharfe, gute, blöde Augen haben. Ein schmachrendes Auge, das halb geschlossen ist und Sehnsucht, Verlangen, oder eine andere sanfte Empfindung verräth. Auf einem Auge nicht wohl sehen können. Auf beyden Augen blind seyn. Er ist bey dieser Gelegenheit um sein rechtes Auge gekommen. Sie betrachtete ihn, ohne ein Auge zu verwenden. Etwas mit unverwandten Augen ansehen. Die Augen auf etwas werfen. Die Augen auf etwas heften, lange und aufmerksam darauf sehen. Die Sache liegt vor Augen, ist unläugbar. Das fiel uns sogleich in die Augen. Das fällt schön in die Augen, hat eine gute Gestalt.


Wer nicht sehr ins Auge fällt,

Den beneidet nicht die Welt,

Weiße.


Jemanden in die Augen fassen, ihn aufmerksam ansehen. Er hat mich nicht eine Minute aus den Augen gelassen, beständig angesehen. Es ist mir aus den Augen gekommen, vor meinen Augen verschwunden. Ein wachsames Auge auf etwas haben, es sorgfältig beobachten, in Acht nehmen. Thue die Augen auf, im gemeinen Leben, gebrauche dich deiner Augen mit Aufmerksamkeit und Bewußtseyn. Rollende Augen, die sich wegen einer heftigen Leidenschaft schnell hin und her bewegen.


Mein Auge rollt verwirrt und sieht ihn schüchtern an,

Schleg.


Große Augen machen, eine lebhafte Verwunderung äußern.


Ich denke noch daran, was er für Augen machte,

Als deine Mutter ihn in unsre Reihen brachte,

Rost.


Die Augen laufen mir über, werden mit Wasser angefüllet, wie[557] z.B. bey Erblickung eines allzu starken Lichtes. Der Diamant blendet mich ganz und macht, daß mir die Augen überlaufen, Gell. Die Augen gingen ihm über, er fing an zu weinen. Mit nassen, thränenden Augen. Es wird nasse Augen setzen. Ich kann es nicht mit trockenen Augen, nicht ohne Thränen, ansehen. Die Augen standen ihm voll Wasser, voll Thränen. Die Augen fangen ihm an zu brechen, wenn sie bald geschlossen sind, entweder bey einer heftigen Sehnsucht, oder auch kurz vor dem Tode. Einem die Augen zudrücken, bey dem Sterben.

Im gesellschaftlichen Umgange wird dieses Wort oft überflüssig gesetzt, um dem ganzen Ausdrucke einen größern Nachdruck zu geben. Ich habe es mit meinen Augen gesehen, sehr deutlich und zuverlässig. Ich habe ihn mit keinem Auge gesehen, gar nicht. Man siehte mit Augen, deutlich genug.

Die Absicht und Wichtigkeit dieses Werkzeuges hat im gemeinen Leben viele figürliche Arten zu reden veranlasset, wovon hier nur ein Paar zur Probe angeführet werden sollen. Einem ein Dorn, oder Stachel in dem Auge seyn, nicht gerne von ihm gesehen werden. Mit einem blauen Auge, mit einem erträglichen Verluste, davon kommen. Das Kalb in die Augen schlagen, nach einer niedrigen Figur, jemanden auf der empfindlichsten Seite beleidigen. Man muß ein Auge zudrücken, die Sache geschehen lassen, thun, als wenn man sie nicht sähe. Einem ein Auge verkleistern, ihm die wahre Beschaffenheit einer Sache verhehlen. Einem Staub in die Augen streuen, ihn verblenden, eine ungegründete Sache als wahrscheinlich vorstellen. Es schickt sich wie eine Faust auf das Auge, gar nicht. Einem den Daumen auf das Auge setzen, ihn in den gehörigen Schranken, in seiner Gewalt halten. In Niedersachsen bedeutet, einem etwas auf das Auge drücken, ihn bestechen. Einem nicht die Augen im Kopfe gönnen, ihm nichts gönnen. So lange mir noch die Augen offen stehen, so lange ich lebe. Die Augen zuthun, schlafen. Ich habe diese Nacht kein Auge zugethan, edler geschlossen. Ingleichen, sterben. Wenn dein Vater die Augen zuthun wird. Er mußte die Augen darüber zudrücken, sterben. Keine Krähe hackt der andern die Augen aus u.s.f.

Folgende Arten des Ausdruckes sind in der höhern Schreibart der Neuern seit einiger Zeit üblich geworden. Seine Augen zerfließen in Thränen. Ihr Auge floß von Zähren, Weiße.


Dein Aug wird jetzt um mich in Thränen schwimmen,

Dusch.


Deine Augen schwommen in zärtlichen Freudenthränen,

Dusch.


Wobey man aber nicht an die lumina natantia der Römer denken muß, welche einen andern Begriff ausdruckten. Mein nasses Auge hing starr auf deinem Gesichte, wenn du so redetest, ebend.


Mit was für sehnsuchtsvollem Blick

Ihr Aug an seinem Auge hing!

Gell.


– – O welch Entzücken

Trinkt mein erloschnes Herz aus diesen sanften Blicken!

Weiße.


Die offnen Augen kleben

An allem starr,

Kleist.


II. Außer der bereits bemerkten Empfindung des Sehens wird dieses Wort noch in einigen andern figürlichen Bedeutungen gebraucht. So bezeichnet es,

1. Jemandes Mienen und Geberden, so fern sie Dollmetscher der innern Empfindungen sind. Es wird schele Augen setzen, im gemeinen Leben. Ich that alles, was ich ihm nur an den Augen ansehen konnte.


[558] Ich sah es ihm sogleich an seinen Augen an,

Daß du ihm wohl gefielst,

Rost.


Er las meinen Willen in meinen Augen, in der höhern Schreibart. Wie zitterte ich, wenn dein Auge einen geheimen Gram verrieth! Aber auch so fern sich der ganze Charakter des Herzens und des Geistes in ihnen schildert. Der Schalk siehet ihm aus den Augen. Es siehet ihm nichts Gutes aus den Augen. Nun sehen sie aus andern Augen, sie sehen jetzt weit besser aus.

2. Bedeutet es auch oft so viel als den Anblick, die Gegenwart einer Person. Komm mir nicht vor meine Augen. Einem unter die Augen gehen, treten, oder kommen. Einem aus den Augen gehen. Ich kann ihn nicht vor Augen leiden. Er siehet mein Unglück vor Augen. Einem die größten Grobheiten unter die Augen sagen. Vor den Augen der ganzen Welt. Sich eines Augen entziehen. Wache über jeden seiner Schritte und laß ihn nicht aus den Augen. Dem Tode, der Gefahr unerschrocken unter die Augen gehen, entgegen gehen. Unter vier Augen, bloß in Gegenwart der andern Person.

3. Noch öfter wird es für die Folgen und Wirkungen des Sehens gesetzt, und da bezeichnet es,

1) Die Einbildungskraft und das Gedächtniß. Die Sache schwebt mir vor den Augen. Gott vor Augen haben. Etwas aus den Augen setzen, zur Ungebühr vergessen, oder zu vergessen scheinen; so daß dieser Ausdruck alle Mahl einen nachtheiligen Nebenbegriff hat. Ehedem wurde er auch im guten Verstande für vergessen überhaupt gebraucht; z.B.


Der alle Schuld, damit du ihn verletzet,

Dir herzlich schenkt, und aus den Augen setzet,

Opitz, Ps. 103.


2) Das Begehrungsvermögen. Ein Auge auf etwas werfen, die Sache lieb gewinnen, heimlich darnach trachten. Ein Auge auf etwas haben, insgeheim darnach streben. Das sticht ihm in die Augen, im gemeinen Leben reitzet sein Verlangen. Die Augen an etwas weiden, es mit Vergnügen sehen, sich daran belustigen. Wie würde sich ihr Auge an meiner Verwirrung weiden!

Ihr seht, wir haben Wein,


Und was die Augen nur verlangen,

Wiel.


3) Das ganze Vermögen zu erkennen und zu beurtheilen. Die Sache liegt vor Augen, ist deutlich, unläugbar. Einem die Augen verblenden, den richtigen Gebrauch seines Verstandes und seiner Vernunft hindern. Einem die Augen öffnen, ihm klare Erkenntniß einer Sache verschaffen. Die Augen gehen ihm auf, er bekommt eine deutliche Erkenntniß, lernet die Sache nach ihrer wahren Beschaffenheit kennen. Ich hoffe, daß ihnen endlich die Augen zu ihrem Besten aufgehen werden. Es ist, als ob mir die Augen auf einmahl aufgingen. Wie vieles verbirgt nicht eine Stunde den Augen der Menschen! In seinen Augen, nach seinem Urtheile, ist ein Reicher ohne Unterschied ein ungerechter Mann. Muß er nur darum ein Betrieger seyn, weil ich in ihren Augen so liebenswürdig bin? Gell. Eine Sache mit einem kritischen Auge, mit dem Auge eines Kenners ansehen. Ich sehe sie seit einiger Zeit mit ganz andern Augen an. Hierher gehöret auch der biblische Gebrauch des Wortes Auge, wo durch das Auge Gottes dessen Allwissenheit und Allgegenwart, durch Augen des Verstandes aber die Einsicht und Beurtheilungskraft angedeutet wird.

III. Endlich wird dieses Wort auch häufig gebraucht, verschiedene andere Dinge damit zu benennen, welche in ihrer äußern Gestalt einige Ähnlichkeit mit dem Auge haben. So führen den Nahmen des Auges. oder der Augen:[559]

1. Die Puncte auf den Würfeln, welche den Werth einer jeden Fläche andeuten. Auf die meisten Augen spielen. Vier, fünf u.s.f. Augen werfen. In den Spielkarten werden diejenigen Karten, welche keine Bilder haben, Augen genannt. Eben daselbst führet auch die Zahl des Werthes der Blätter diesen Nahmen. Ich habe kein Auge in meiner Karte. Er hat die meisten Augen. Auf seinen fünf Augen bestehen, hartnäckig bey seiner Meinung beharren; von den Augen auf den Würfeln.

2. An den Bäumen und Pflanzen, die aus der Schale hervor brechenden Keime, unentwickelte Blüthen und Zweige; die Knospen, in Oberdeutschland Butzen und Bressen, in Niedersachsen Bollen. An den Weinstöcken werden sie auch Palmen genannt. Daher Augen bekommen, gewinnen, setzen oder schießen.

3. In den Schmelzhütten führet diesen Nahmen auch der so genannte Leimpotzen, der bey dem großen Garmachen des Kupfers, bey der Form auf die Herdsohle gelegt wird, damit das Gebläse etwas daran stoße. An andern Orten heißt er auch die Tasche.

4. In den Küchen führet der kleine Punct in dem hellesten Theile des Weißen eines Eyes, welcher für den Anfang des Thieres gehalten wird, ingleichen ein Tropfen Fett auf den Brühen, den Nahmen eines Auges.

5. Ein gediegenes Krönlein an den Erzstufen wird in den Bergwerken gleichfalls ein Auge genannt, und

6. An dem Reitgeschirre hat diesen Nahmen der höchste Theil an den Stangen, der platt und durchbrochen ist, das Hauptgestell darein zu schnallen.

7. Das Auge der Zeuge in den Manufacturen bedeutet den Glanz und das äußere Ansehen der Zeuge, so wie eben dieser Ausdruck an den Perlen, Diamanten und andern Edelsteinen ihr Feuer und ihren Glanz ausdruckt, welchen man auch ihr Wasser nennet. So sagt man z.B. dieser Diamant hat ein schwärzliches Auge, wenn sein Glanz in das Schwärzliche spielet.

8. Endlich hat man diesen Nahmen auch auf mancherley Acten von Öffnungen und Löchern in andern Körpern angewandt. So werden die Schleifen oder Ringe in den Schäften eines Weberstuhles, wodurch die Kettenfäden gehen, Augen genannt. Dahin gehöret das Auge der Schnecke in der Baukunst, welches in einer kleinen Zirkelfläche mitten in den Schnecken der Capitäler bestehet; das Auge an dem Kernobste, derjenige Theil, welcher aus dem verdorrten Blumenkelche entstehet; das Auge der Feuerwerker, eine kleine hölzerne Rinne, durch welche die Pulverwurst in die Minenkammer gehet; das Auge in den Schmelzöfen, dasjenige Loch, durch welches das flüssige Metall abgelassen wird; das Auge an den Werkzeugen der Bergleute, dasjenige Loch, durch welches der Stiel gestecket wird; das Auge einer Nähnadel, das Öhr in derselben; die Augen in einem Käse, die Löcher in demselben u.s.f. Hühneraugen, Krebsaugen und andere eben so uneigentliche Benennungen kommen an ihrem Orte vor.

Anm. Die Benennungen dieses Werkzeuges des Sehens haben in den Europäischen Sprachen eine merkwürdige Übereinstimmung mit einander. Aus dem Hesychius erhellet, das die Griechen das Auge auch οκκος genannt haben. Aber auch die Benennung ανγαι gehöret hierher, weil sie ehedem gleichfalls die Augen bedeutete. Von dem erstern Ausdrucke haben die Lateiner vermuthlich ihr oculus, welches das Diminutivum von einem veralteten occus ist. Das Angelsächsische Eage, das Engl. Eye, das Schwedische Öga, das Dänische Oye, und das Holländische Ooghe kommen dem Hochdeutschen Auge und Niedersächsischen Oge noch näher. So gar in den Slavonischen Mundarten heißt[560] es Oko, und die Krimmischen Tatarn sollen es Oge nennen. S. auch Eiland und Ey.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 1. Leipzig 1793, S. 557-561.
Lizenz:
Faksimiles:
557 | 558 | 559 | 560 | 561
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gedichte. Ausgabe 1892

Gedichte. Ausgabe 1892

Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.

200 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon