Davidson, Lucretia Maria

[92] Davidson, Lucretia Maria, Amerika's ausgezeichnetste Dichterin, wurde zu Plattsburg in den Vereinigten Staaten am 27. September 1808 geboren. Das ganze kurze Leben, das innerste Wirken dieses reich begabten, reizenden Mädchens ist selbst nur ein rührendes Gedicht. Wie eine edle, geisterhafte Erscheinung von Jenseits ging sie über die Erde, ihr Dasein war ein Traum von Poesie, die Poesie selbst ihr ganzes Leben. Schon in dem zarten Kinde glühte mächtig der Drang nach dem Idealen – die schwache Hülle vermochte nicht lange den ungestümen Genius zu fesseln, und so durchbrach schon in ihrem 17. Jahre Psyche den Kerker und flog empor zum Reiche der Ahnungen und erhabenen Wunder. Kaum vier Jahre alt, sonderte sich das liebliche Kind von den jugendlichen Genossen und ihren Spielen ab, verbarg sich in die Einsamkeit, zeichnete Urnen, Bäume, Blumen etc. auf die Blätter eines Heftes und versah diese mit hieroglyphenartigen Figuren, hinter welchen ihre Eltern, welche der kleinen Schwärmerin nachforschten, endlich Gedichte enträthselten. Lucretia's Eltern, zwar nicht reich aber von höherer Bildung, als man sie in der Regel in ihren[92] Kreise antreffen dürfte, wehrten dem Hange des wundersam begabten Kindes nicht; aber Lucretia vergoß die bittersten Thränen, als sie ihr Geheimniß verrathen sah und warf ihr Heft in's Feuer. Noch zu keusch und heilig, noch zu körperlos war ihre Muse, um das grelle Tageslicht der Oeffentlichkeit zu vertragen. Wie zarte Blüthen waren ihre Lieder aufgesproßt, die der heiße Sonnenstrahl eben so, wie der Sturmwind welker macht und entblättert. – Doch wem einmal der Drang zum Gesange gegeben, der vermag die innere Mahnung nicht zu unterdrücken. Lucretia setzte ihre heimlichen Beschäftigungen fort. In ihrem elften Jahre wohnte sie an Washington's Geburtstage der öffentlichen Feier zu Ehren dieses Helden bei. Die festliche Veranlassung, so wie die Verehrung für den edlen und großen Mann, begeisterten sie mächtig. Sie zeichnete eine Urne, und setzte einige tiefempfundene Verse, eine Nänie, auf den großen Verstorbenen, darunter. Lucretia's Tante, welche diesen poetischen Erguß zu Gesicht bekam, wollte nimmermehr glauben, daß das kindische Mädchen wirklich im Stande sei, so etwas Gelungenes zu schaffen. Sie behauptete kühn, das Mädchen habe diese rührende Stelle aus irgend einer Gedichtsammlung abgeschrieben. Lucretia brach bei dieser Angabe in Thränen aus; aber das wahre dichterische Talent wird nie entmuthigt, kann nie unterdrückt werden. Lucretia setzte sich nieder und rechtfertigte sich in einem neuen Gedichte vor der erstaunten Tante. Ihr Beruf wurde von nun an anerkannt. – Mit all' dem schwärmerischen Feuer ihrer seltenen Natur warf sie sich jetzt den Musen in die Arme, wachend und schlafend hielt sie die Spannkraft ihrer Phantasie rege, ganz versenkte sie sich in das Reich des Idealen, und war schon der Erde entfremdet, als diese an die heranblühende Jungfrau ihre ersten Anforderungen machen wollte. Sie wurde so reizbar, daß ein schönes Gedicht, ein Gesang, sie bis zur Ohnmacht erschüttern konnten. Alle ihre Dichtungen, 278 an der Zahl (einen großen Theil ihrer Arbeiten hat sie als ungenügend selbst vernichtet) tragen den [93] Stempel der Weihe an sich und überragen weit das Gewöhnliche, Sie erschienen vier Jahre nach ihrem Tode zu Neuyork unter dem Titel: »Amir khan and other poems; the remains of Lucretia Maria Davidson. With a biographical sketch. By B. Morse.« Darunter befinden sich fünf größere Gedichte von mehreren Gesängen. Drei Romane hinterließ sie unvollendet und dichtete schon in ihrem 13-Jahre ein Trauerspiel. Beweint von Allen, die sie kannten, starb Lucretia noch nicht 17 Jahre alt am 27. August 1825. Die zarte Hülle der Jungfrau unterlag der gewaltigen geistigen Anstrengung. Wie eine Blume sank sie entblättert hinab, als sie ihre Blüthenzeit erreicht. – Eine deutsche Uebersetzung ihrer Poesien existirt noch nicht. Möge die kurze Geschichte ihres wundersamen, poetischen Lebens Jemanden zur Verpflanzung ihrer schönsten Lieder auf unsern heimathlichen Boden veranlassen!

B.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 3. [o.O.] 1835, S. 92-94.
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