Dauer

[194] Dauer ist beständige, ununterbrochene Existenz, constante Zeiterfüllung, Identisch-Bleiben eines Inhalts eine bestimmte Zeit hindurch (relative, absolute Dauer). Das Ich findet zunächst sich in seiner Identität (s. d.) als dauernd, permanierend, und dann Vorstellungsinhalte, die es aus dem Flusse des Geschehens immer wieder herauszuheben vermag und die es daher gleichfalls als dauernd auffaßt und sogar begrifflich auf dauernde Einheiten (Substanzen) zurückführt.

Zunächst wird die Dauer als eine den Dingen innewohnende Tätigkeit aufgefaßt, von den Scholastikern als »permanere in existentia« (SUAREZ, Met. disp. 50, 1, 1). Es wird unterschieden reale, imaginäre (vorgestellte), relative Dauer (l.c. 5). Die absolute Dauer oder Ewigkeit heißt »aevum« (l.c. 50, 6, 9, bei ARISTOTELES aiôn = to aei einai, De coel. I 9, 279 a 25). Nach GOCLEN ist »duratio« die »persistentia (permansio) rei« (Lex. philos. p. 561). SPINOZA definiert Dauer als »attributum, sub quo rerum creatarum existentiam, prout in sua actualitate perseverant, concipimus« (Cog. met. I, 5), als »indefinita existendi continuatio« (Eth. II, def. V), als »existentia, quatenus abstracte concipitur, et tanquam quaedam quantitatis species« (Eth. II, prop. XLV). Psychologisch bestimmt wird die Dauer schon von LOCKE. Sie ist nach ihm der Abstand zwischen dem Auftreten zweier Vorstellungen im Bewußtsein, das Dasein oder der Fortgang unseres Daseins oder eines andern Dinges nach dem Maße der Vorstellungen in uns (Ess. II, ch. 14, § 3). Der Begriff der Dauer entspringt aus der inneren Wahrnehmung des Vorstellungsverlaufes (l.c. § 4). Nach LEIBNIZ wird die Vorstellung der Dauer nicht durch die Folge der Vorstellungen erzeugt, sondern nur erweckt, indem in der Wahrnehmung selbst nicht die Constanz der Zeit liegt, die eine »ewige Wahrheit« (etwas Apriorisches) ist (Nouv. Ess. II, ch. 14). HUME betont, die Vorstellung der Dauer stamme immer aus einer Folge veränderlicher Gegenstände, niemals aus dem Bewußtsein eines Gleichförmigen, Unveränderlichen (Treat. II, sct. 3). Nach CONDILLAC ist das Bewußtsein der Veränderung des Ich an die Vorstellung einer Dauer gebunden (Trait. d. sens. I, ch. 4, § 11). Nach CHR. WOLF ist die Dauer »existentia simultanea cum rebus pluribus successivis« (Ontol. § 578). Nach CRUSIUS ist sie »die Fortsetzung der Existenz, durch mehr als einen Augenblick«, »das Zugleich-sein eines Dinges mit der Existenz eines andern« (Entw. d. notw. Vernunftwahrh. § 55).

KANT erklärt: »Das Beharrliche ist das Substratum der empirischen Vorstellung der Zeit selbst, an welchem alle Zeitbestimmung allein möglich ist.«[194] »Durch das Beharrliche allein beikommt das Dasein in verschiedenen Teilen der Zeitreihe nacheinander eine Größe, die man Dauer nennt. Denn in der bloßen Folge allein ist das Dasein immer verschwindend und anhebend und hat niemals die mindeste Größe« (Krit. d. r. Vern. S. 176). Das Beharrliche in der Zeit ist das »Schema« (s. d.) der Substanz. Nach FRIES ist die Dauer »eine dunkle Vorstellung, welche uns erst mittelbar durch Vergleichungen unserer Zurückerinnerung, also durch willkürliche Reflexionen zum Bewußtsein kommt« (Syst. d. Log. S. 81). HEGEL bestimmt die Dauer als »relatives Aufheben der Zeit« (Naturphil. S. 55). CARNERI meint: »Dauer im gemeinen Sinn gibt's keine; denn alles Sich-erhalten ist nur ein ununterbrochener Wechsel« (Sittl. u. Darw. S. 90), »nur der uns unmerkliche Grad des Wachsens und Vergehens« (l.c. S. 90 f.); ähnlich HERAKLIT, NIETZSCHE, HUXLEY u. a. EMERSON erklärt: »In der Natur gibt es keine absolut feststehenden Größen. Das Universum ist flüssig und flüchtig. Dauer ist nur ein relativer Begriff« (Kreise, Essays S. 107). Nach J. BAUMANN heißt Dauer, »daß etwas oder etwas an etwas sich nicht verändert, während andere Dinge sich so verändern, daß auf ihre Veränderungen der Zeitbegriff Anwendung erleidet« (Lehre von R. u. Z. II, 525). VOLKMANN: »Die Gegenwart wird zur Dauer, indem wir in dem wachsenden Spannungsgrade der Zukunft bewußt werden, daß sie sich behauptet gegen die Zukunft. Dieses Gefühl des Noch-da ist das Dauergefühl und hat das Maß seiner Intensität an der Größe der abgewiesenen Hemmungen, das Maß seiner Extensität an der Länge der Zeitreihe des Lebens, durch welche es sich hindurchzieht« (Lehrb. d. Psychol. II4, 20). Nach WUNDT ist innerhalb der Zeitanschauung selbst, ohne Übertragung dieser auf den Raum, »die Vorstellung einer absoluten Dauer, d.h. einer Zeit, in welcher sich nichts verändert schlechterdings unmöglich«. »Dauernd nennen wir daher nur einen Eindruck, dessen einzelne Zeitteile einander ihrem Empfindungs- und Gefühlsinhalte nach vollständig gleichen, so daß sie sich bloß durch ihr Verhältnis zum Vorstellenden unterscheiden« (Gr. d. Psychol.5, S. 172). KÜLPE rechnet (wie BALDWIN, Handb. of Psychol. I, 85) die Dauer als elementare zeitliche Beschaffenheit zu den Eigenschaften der Empfindung (Gr. d. Psychol. S. 30, 394, 396). Die Dauer von Empfindungen ist mehrfach berechnet worden (l.c. S. 397 ff.), auch die Dauer psychophysischer »Reactionen« (s. d.). Nach EBBINGHAUS ist Dauer »die Zeitlichkeit eines bestimmten gleichartigen Erlebnisses, das für uns gerade im Vordergrund des Interesses steht und durch beliebige andere Inhalte begrenzt wird« (Gr. d. Psychol. S. 458). Nach RIEHL beruht die Vorstellung der Dauer darauf, daß das Ich seine Identität (s. d.) in der Folge der Vorstellungen festhält (Phil. Krit. II, 1, 73). Die anschauliche Zeit und jeder Teil in ihr ist oder hat Dauer. »Aus dem beständigen Hinschwinden der Zeit läßt sich... die Nichtigkeit ihres Inhaltes nicht folgern, und statt zu sagen: nichts beharrt, alles ist ohne Dauer, müssen wir vielmehr sagen: nichts ist völlig vergänglich. Das Vergangene ist in seinen Wirkungen, das Künftige in seiner Ursache da, und das zurück- und vorgreifende Bewußtsein verbindet Succession und Beharren« (Zur Einf. in d. Philos. S. 210, gegen SCHOPENHAUER). Auch nach ROYER-COLLARD setzt die Vorstellung der Zeitfolge schon das Bewußtsein der Dauer voraus; dieses entspringt aus dem Bewußtsein der Identität des Ich (in Jouffroys Übers. der WW. Reids 1828, III, 327 ff., IV, 273 ff.). Vgl. Zeit, Werden.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 194-195.
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