Sollen

[408] Sollen ist das Correlat eines Willens, ein Ausdruck für das von einem Willen, einem fremden oder dem eigenen, Geforderte. Etwas »soll sein« heißt: es wird gewollt, gefordert, bedingt, daß es sei, geschehe. Etwas »sollte sein« heißt: es wäre zu wünschen, daß es sei. Es »soll geschehen sein« u. dgl. heißt: es wird der Glaube daran irgendwoher gefordert. Das ethische Sollen ist das Gebot des ethischen Willens, der zugleich ethische Vernunft ist. Der Wille zur Vernunft, zur »Humanität«, d.h. zum vernünftigen Menschsein, fordert, bedingt notwendig, schlechthin, ohne weitere Motive das sittliche Handeln (»kategorischer Imperativ«, s. d.), die Pflicht (s. d.). In den (logischen, ethischen) Normen (s. d.) ist ein Sollen ausgesprochen.

Nach KANT drückt das Sollen »eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anderes als ein bloßer Begriff ist« (Krit. d. rein. Vern. S. 438). »Man soll dieses oder jenes tun und das andere lassen. dies ist die Formel, unter welcher eine jede Verbindlichkeit ausgesprochen wird. Nun drückt jedes Sollen eine Notwendigkeit der Handlung aus und ist einer zwiefachen Bedeutung fähig. Ich soll nämlich entweder etwas tun (als ein Mittel), wenn Ich etwas anderes (als einen Zweck) will. oder Ich soll unmittelbar etwas anderes (als einen Zweck) tun und wirklich machen. Das erstere könnte man die Notwendigkeit der Mittel (necessitatem problematicam), das zweite die Notwendigkeit der Zwecke (necessitatem legalem) nennen« (Üb. d. Deutl. d. Grunds. § 2). – Das kategorische Sollen stellt einen »synthetischen Satz a priori« vor, »dadurch, daß über meinen durch sinnliche Begierde afficierten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen, reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält, ohngefähr so, wie zu den Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten, hinzukommen und dadurch synthetische Sätze a priori, auf welchen alle Erkenntnis einer Natur beruht, möglich machen« (Gr. z. Met. d. Sitt. S. 83 f.). »Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als es sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet« (l. c. S. 84 f.). Das Sollen begründet unser sittliches Handeln-können (s. Imperativ, Rigorismus, Sittlichkeit). Ähnlich J. G. FICHTE, nach welchem das Sollen »der Ausdruck für die Bestimmtheit der Freiheit« ist (Syst. d. Sittenl. S. 67). Nach CHR. KRAUSE soll das Ich das Ewigwesentliche in der Zeit herstellen (Vorles. S. 132). LOTZE bemerkt: »Nur die Einsicht in das, was sein soll, wird uns auch die eröffnen in das, was ist« (Mikrok. I2, 442). Die Ursprünglichkeit des Gefühls des (das Sittliche bedingenden) Sollens lehrt ULRICI (Gott u. d. Nat. S. 680 ff.). Nach P. NATORP u. a. ist die Setzung eines Objects als sein-sollend ein ursprüngliches Moment des Bewußtseins (Socialpäd. S. 52). Die Idee erst begründet das Sollen (l. c. S. 24). Eine ursprüngliche Kategorie ist das Sollen nach G. SIMMEL (Einl. in d. Mor. I, 13). Es ist logisch grundlos (l. c. S. 16). Es ist eine der Formen, welche »der rein sachliche ideelle Inhalt der Vorstellungen annehmen kann, um eine praktische Welt zu bilden« (l. c. I, 10). Es ist kein Inhalt,[408] sondern »sozusagen ein gefühlter Spannungsmodus von Inhalten..., der wie das Können, das Sein, das Wünschen eine Art ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit ausdrückt« (l. c. S. 11). Es sind immer Gattungszustände, die im einzelnen zu triebhaftem Sollen werden (l. c. S. 20). Vielleicht bedeutet das Sollen gefühlte Triebe in uns, die nicht auf den Egoismus zurückführbar, nicht erklärbar sind (l. c. S. 30). Was verwirklicht werden soll, ist das Gute (l. c. I, 47). Das höchste Sollen ist an und für sich inhaltslos. anderweitige Erkenntnis muß erst concrete Inhalte setzen (l. c. S. 53 ff.. vgl. »Kant«, 1904). Nach H. RICKERT ist das Sollen das alleinige Transcendente, nicht als Sein, sondern als Wert (Gegenst. d. Erk. S. 69 ff.). SCHUPPE bemerkt. »Alles Sollen ruht auf einem Wollen, alles Wollen geht in letzter Instanz auf eine Wertschätzung zurück, welche nur im Gefühle lebt« (Grdz. d. Eth. S. 46 ff.). Nach LIPPS ist das Sollen ein Wollen, das bedingt ist durch die Welt der objectiven Tatsachen überhaupt, durch den objectiven Wert der möglichen Zwecke menschlichen Wollens überhaupt (Eth. Grundfr. S. 126). Nach EHRENFELS ist Sollen primär »nichts anderes, als die durch einen Imperativ begründete Beziehung des präsumtiv Handelnden oder Unterlassenden zu seiner präsumtiven Handlung oder Unterlassung« (Werttheor. S. 195 f.). Die hypothetische und kategorische Form des Sollens, das »Angeratenbekommen« und »Gebotwerden« hält FRED BON scharf auseinander (Üb. d. Soll. u. d. Gute S. 129). Nach R. GOLDSCHEID ist das Sollen »identisch mit den in den sittlichen Vorstellungen enthaltenen Willenscomponenten«. »Jedes Individuum muß schon vermöge seines Selbsterhaltungstriebes, sowie Vorstellungsreihen sich in ihm entwickeln, als Correlat für sein Wollen dem Nächsten gegenüber ein Sollen postulieren. ja nicht nur für dem Nächsten, sondern sowie vorausschauendes Bewußtsein auftritt, muß auch der vorgestellte Zweck den Charakter des Sollens annehmen. So zeigt sich, daß sowohl die notwendig auftretenden originalen Wertungen, wie auch die bei jedem Gemeinschaftsleben notwendig entstehenden übertragenen einen Teil des Wollens in jedem Individuum in ein Sollen umwandeln müssen. Das Sollen ist somit eine streng causal begreifbare Folgeerscheinung des Wollens, sowie dieses mit Vorstellungen associiert auftritt« (Zur Eth. d. Gesamtwill. I, 87 f.). Vgl. SIGWART, Log. I2, 5, 18. – Vgl. Pflicht, Imperativ, Norm, Sittlichkeit, Notwendigkeit.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 408-409.
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