Politische, soziale und wirtschaftliche Zustände

der Reaktionszeit

[270] Das Ergebnis der Erhebung gegen Sparta und des neunjährigen Krieges in Griechenland war, daß jetzt, drei Menschenalter nach den Siegen von Salamis und Platää, der Perserkönig der Griechenwelt sein Gesetz auferlegte. Die asiatischen Griechenstädte waren ihm definitiv überlassen, und niemals haben Griechen wieder den Versuch machen können, sie ihm zu entreißen. Spartas Macht, die im J. 400 bis ins Schwarze Meer gereicht hatte, war jetzt auf das Mutterland und die Inseln beschränkt; und hier regierte es als Wächter und Exekutor der von Artaxerxes erlassenen Ordnung, gründlich kuriert von jeder Anwandlung einer idealistischen und nationalen Politik. Alle anderen Staaten waren erschöpft und ohnmächtig. Einzig im Westen hatte sich eine neue starke Macht gebildet, die an Leistungsfähigkeit Sparta noch übertraf und weit unabhängiger dastand als dieses; als der nächste nach dem Perserkönig, wenn auch in weitem Abstand, galt den Zeitgenossen der Herrscher des sizilischen Reichs. Aber das war eine Macht, die allem ins Gesicht schlug, was den Hellenen politisch und sittlich als Ideal galt, die sie als wahren Staat überhaupt nicht anerkennen konnten, sondern als frevelhafte Gewaltherrschaft schlechthin verurteilten. Miteinander waren die drei Mächte eng verbündet und erstickten jedes Unabhängigkeitsgelüste der andern. Der Kampf für die altererbte hellenische Autonomie, erst gegen Athen, dann gegen Sparta, hatte mit der Unterdrückung aller Bewegungsfreiheit geendet. Geblieben war von dem schönen Programm, mit dem 431 und wieder 413 der Krieg gegen Athen eröffnet war, einzig die Reaktion im Inneren, die von den herrschenden [270] Mächten überall in den Formen durchgeführt wurde, welche ihren Zwecken dienten. Im Reich des Dionys erschien sie als Herrschaft des einen Despoten, in Kleinasien als Herrschaft der Satrapen, im Machtbereich Spartas als Regiment der wahren Aristokraten; tatsächlich bedeutete sie überall die unbedingte Unterordnung unter den Willen der drei Mächte.

Der äußeren Not entsprach die innere. Furchtbar hatte die Kriegszeit, die nun mit kurzen Unterbrechungen schon 45 Jahre andauerte, überall das Land verwüstet. Und im Gefolge des Kriegs kam die Revolution, die eine Stadt nach der andern ergriff und die Parteien in wütendem Bürgerkrieg verzehrte. In zahlreichen Gemeinden hatte sie alle Besitzverhältnisse aufs schwerste erschüttert, ja oft mehrmals hintereinander vollständig umgestürzt. Abgesehen etwa von Sparta und einigen Teilen des Peloponnes und von dem abgelegenen Bergland Ätolien sowie von Außenposten wie Massalia und den Städten des Schwarzen Meeres gab es kaum noch ein griechisches Gemeinwesen, in dem nicht der altererbte Wohlstand vernichtet, die alten Familien ausgerottet oder verarmt und ohne Nachwuchs hinweggestorben waren. Die Landwirtschaft lag vollständig darnieder, Handel und Industrie stockten, die Finanzen der Gemeinden waren gänzlich zerrüttet; Athen, das im fünften Jahrhundert mit Tausenden von Talenten gewirtschaftet hatte, war jetzt froh, wenn es einmal 20 Talente zur Verfügung hatte. Aus der ständigen Finanznot ist im Mutterlande kein Staat je wieder herausgekommen. In Italien und Sizilien waren durch die Nationalfeinde und durch den Kampf gegen Syrakus um die Wette die meisten der ehemals blühenden Städte vernichtet, und nicht alle waren auf Dionys' Machtwort, in völlig veränderter Gestalt, aus den Trümmern wieder erstanden. Im Mutterlande war es zum Äußersten nur in vereinzelten Fällen gekommen, in Ägina, Platää, Melos und einigen chalkidischen Städten sowie unter Lysander in Sestos; und die Restauration hatte wenigstens versucht, den Schaden wiedergutzumachen. Aber die Verheerung und die innere Zersetzung waren darum nicht minder groß, ja nur um so heilloser, weil hier nicht wie im Westen, auf den Trümmern ein starker und leistungsfähiger Staat sich erhob. Nirgends, außer in [271] Sparta und jetzt wieder in Athen, bestanden gefestete Verhältnisse, die irgendwelche Garantie der Dauer boten. In den meisten Staaten hatte die eine Partei die andere, soweit sie nicht umgebracht war, ins Exil getrieben, und wenn zur Zeit Sparta und Persien die bestehenden Zustände gewaltsam aufrechterhielten, so warteten die Tausende von Exulanten, die inzwischen kümmerlich in fremden Gemeinden oder als Soldknechte ihr Leben fristeten, doch nur auf die erste Gelegenheit, um durch eine neue Revolution die Heimkehr zu erzwingen und blutige Rache zu üben. Zu wie furchtbarer Verwilderung die Parteikämpfe geführt haben, ist uns aller Orten entgegengetreten; einen drastischen Ausdruck dafür bietet der Eid, den nach Aristoteles' Angabe an manchen Orten die Oligarchen schworen: »Ich will dem Demos schlecht gesinnt sein und ihm so schlecht raten, wie ich nur immer kann« (pol. V 7, 19), und das Grabepigramm, welches man in diesen Kreisen für Kritias und seine Genossen verfaßte: »Das ist das Grabmal wackrer Männer, welche dem verfluchten Demos von Athen eine kurze Zeit die Frechheit gelegt haben« (schol. Äschin. 1, 39). – Wie tief Griechenland in den letzten 25 Jahren heruntergekommen war, veranschaulicht die winzige Zahl von Schiffen, mit denen man jetzt den Seekrieg führte: die 40 Trieren Thrasybuls waren im J. 389 eine ausschlaggebende Macht. Noch bezeichnender ist vielleicht, daß die 50 Talente, welche Timokrates im J. 395 nach Griechenland brachte (o. S. 228f.), für eine gewaltige Summe galten, welche die Politik aller gegen Sparta verbündeten Staaten entscheidend beeinflußt habe. Wohin man blickte, herrschte nichts als Elend und hoffnungslose Zersetzung: nur zu furchtbar hatten sich die trüben Ahnungen erfüllt, mit denen Herodot die scheinbar so hoffnungsfrohe Entwicklung von Hellas im fünften Jahrhundert betrachtet hatte.

Der große Kampf der Parteien um die politische Herrschaft in den Einzelstaaten und der mit ihm untrennbar verbundene Spartas und des Partikularismus gegen Athen war zugleich ein Ringen zwischen entgegengesetzten wirtschaftlichen Zuständen und ein Ringen zwischen entgegengesetzten Weltanschauungen gewesen. Die fortschrittlichen Tendenzen hatten den Kampf bis [272] aufs äußerste durchgekämpft; aber sie waren erlegen. Im Namen der altererbten Anschauungen und der Ordnungen der Vorzeit hatte Sparta den Sieg errungen und die Herrschaft angetreten; und so sehr sich Dionys' modernes Reich in der Theorie und in der Praxis von der von Sparta geschaffenen Ordnung unterscheidet, gemeinsam ist beiden das streng durchgeführte Autoritätsprinzip und die rücksichtslose Umgestaltung der vorgefundenen Zustände nach dem Bedürfnis der herrschenden Macht. In der Tat schaltete ein spartanischer Harmost in einer abhängigen Stadt nicht anders als in Sizilien und Italien Dionys und seine Vögte. Sieht man jedoch auf den Grund der Dinge, so zeigt sich, daß tatsächlich der moderne Geist dennoch gesiegt und auch die Herrscher sich unterworfen hat. Dionys hat ihn anerkannt; Sparta konnte ihn nicht anerkennen, ohne die Grundlagen des eigenen Staatswesens aufzuheben. Darauf beruht der innere Widerspruch, über den Spartas Politik nicht hinauskam, auch da nicht, als es nach Lysanders Sturz versuchte, ehrlich sein Programm durchzuführen; eben darum hat es nicht, wie Dionys, etwas Neues geschaffen, sondern nur innerlich abgestorbene Zustände künstlich wieder ins Leben gerufen, die sofort zusammenbrachen, sobald Sparta sie nicht mehr schützen konnte. Die Restauration, die es durchführte, ist in Wahrheit eine durchweg vom modernen Geist durchtränkte Reaktion gewesen, so gut wie die, welche auf die Französische Revolution und das Weltreich Napoleons gefolgt ist. Die lebendigen Kräfte, welche die Gegenwart bewegen, verleugnet sie; aber die alte Zeit ist tot und begraben; was sie der Welt bietet, ist nur ihr fratzenhaft verzerrtes Abbild. Die »Guten« (χρηστοί), die »Idealisten« (καλοὶ κἀγαϑοί), die sie ans Regiment bringt, sind nicht mehr der alte ehrenhafte Adel – der hat längst alle Bedeutung verloren –, sondern die Reichen, und ihre Regierung ist eine wüste Klassenherrschaft, so arg wie die der schlimmsten Demokraten; an der Spitze stehen oft genug gewissenlose Emporkömmlinge schlimmster Sorte, die es verstanden haben, die Gunst der Machthaber zu gewinnen. Gottesfurcht und fromme Sitte will die Restauration wieder ins Leben rufen; aber an Stelle der alten naiven Frömmigkeit tritt eine formalistische Religiosität, wie sie Xenophon [273] zeigt, der typische und überzeugte Repräsentant der Reaktion in der Literatur. Die Moral soll die Norm alles menschlichen Handelns bilden; aber wenn irgend etwas, so ist die doppelte Wahrheit der Sophisten dieser Zeit in Fleisch und Blut übergegangen, und so trägt die Moral, sobald sie die Entscheidung geben soll, eine wächserne Nase, bei den Aristokraten so gut wie bei Dionys und bei den Demokraten. Die einzige Richtschnur des Handelns ist, bei Xenophon unbewußt, bei Lysander und Agesilaos und ihren Genossen mit klarem Bewußtsein, die Nützlichkeit, die einzige Norm des Urteils der Erfolg – denn glückt ein Unternehmen, so ist damit erwiesen, daß die Götter es gutgeheißen haben. Die Unterordnung des Bürgers unter den Staat ist das Höchste, aber selbstverständlich nur, wenn der Staat so gestaltet ist, wie es den eigenen Idealen entspricht; andernfalls hat der echte Konservative das Recht und die Pflicht, ihn gewaltsam in die richtige Gestalt zu bringen und die bösen Demokraten zu vernichten, die in ihrer Verblendung dasselbe Recht für sich in Anspruch nehmen: Xenophon hat nie Skrupel darüber empfunden, daß er bei Koronea im Dienste des Agesilaos gegen das Heer seiner Vaterstadt gekämpft hat. Tatsächlich ist allein die Persönlichkeit ausschlaggebend, und sie wird anerkannt und bewundert, solange sie die Macht hat. Die militärische Ausbildung des Bürgers ist die wichtigste Aufgabe des Staats; aber wie Dionys und die Demokraten führt auch Sparta jetzt seine Kriege wesentlich mit Söldnern und zum Kriegsdienst gepreßten Untertanen, und Xenophon hat seine Laufbahn begonnen als Führer eines heimatlosen, bunt zusammengewürfelten Söldnerheers. In dem allen – und das ist vielleicht das Trostloseste an dieser trostlosen Zeit – sind die Gegner um nichts besser. Auch das restaurierte Athen steht unter dem Zeichen der Reaktion: auch dieser Staat kennt keine andere Aufgabe als die Wiederholung und künstliche Aufrechterhaltung einer Vergangenheit, die unwiederbringlich dahin ist. So ehrlich es die Führer der Restauration meinten: sobald Athen sich wieder regen kann, beginnt auch hier die wüste Klassenherrschaft. Wohl deklamieren alle Athener bis zum Überdruß von der Größe und Herrlichkeit des Staats; aber das Ideal ist die Demokratie, d.h. ins Praktische übersetzt, wie es [274] die Redner unzählige Male aussprechen, die Versorgung der Massen. Was ehemals das Mittel war, ist jetzt der Zweck geworden; die Gewinnung der Macht und die Erfüllung der großen Aufgaben der Nation sind nur noch das Mittel für die Lösung der Magenfrage. So ist es kein Wunder, daß für die nationalen Aufgaben kein Interesse, ja kein Verständnis mehr vorhanden war, sooft man auch die alten Phrasen von den Großtaten der Perserkriege im Munde führte. Daß ein Mann wie Xenophon, dem doch trotz aller Beschränktheit ideale Gesinnung nicht fremd war, zu Ruhm und Einfluß zu gelangen hoffte, indem er in die Dienste eines persischen Prinzen trat, ist charakteristisch für die Generation, welche in den Nöten des Todeskampfes Athens herangewachsen war. »Ich muß mich wundern über die Machthaber in den Städten«, schreibt Isokrates im J. 380, »daß sie mit gewaltigen Ansprüchen auftreten, aber den Gedanken eines Nationalkrieges gegen Persien niemals ausgesprochen, ja auch nur gefaßt haben, sondern ihn mir überlassen, der ich mich von aller Politik fern halte. Ja vielleicht verlachen mich viele wegen meiner Einfalt, daß ich mit dem Unglück der Menschen Mitleid habe in einer Zeit, wo Italien verwüstet, Sizilien geknechtet ist, wo so viele Städte den Barbaren ausgeliefert sind und die übrigen Teile von Hellas in den größten Gefahren leben« (4, 169. 170; vgl. ep. 9, 8. 15). Für einen wahren Staatsmann war eben in Griechenland kein Raum mehr. In Athen ist Thrasybul der letzte Nachzügler der alten Zeit gewesen, und nur ein rechtzeitiger Tod hat es verhindert, daß er von den gemeinen Mächten zerrieben wurde, welche jetzt die Welt beherrschten. Als dann in Theben in Epaminondas noch einmal ein großer Mann erstand, hat er nur zerstören können; seine Versuche, aufzubauen, sind resultatlos geblieben. Eine Zukunft hatte die Nation nicht mehr, sondern nur noch eine Vergangenheit498.

[275] Wenn die neue Ordnung, welche Sparta durchführte, auf politischem Gebiet den bestehenden Zuständen nicht entsprach, so noch weniger auf wirtschaftlichem. Das Ideal war der alte Agrarstaat499; für diesen aber war kein Raum mehr in Hellas. Die Entwicklung, die wir im fünften Jahrhundert in Athen verfolgt haben, hat jetzt ganz Griechenland ergriffen. Geld, Industrie und Handel sind die ausschlaggebenden wirtschaftlichen Faktoren geworden, zunächst in den Küstenstädten; dann sind sie von hier aus auflockernd vorgedrungen bis in die Bergkantone des Peloponnes, ja bis in den starren Eurotasstaat. Die Bebauung des Landes war intensiv genug; auf den Inseln waren die Berghänge hoch hinauf bestellt (Isokr. 4, 132), und im Peloponnes war es nicht anders; in Attika war der Felsboden mit Olivenpflanzungen bedeckt. Aber der Bodenertrag reichte, außer in Thessalien (o. S. 53), nirgends aus, die gewaltig angewachsene Bevölkerung zu ernähren; auch der Peloponnes konnte schon im Archidamischen Kriege ohne überseeisches Getreide nicht mehr existieren. Der Import drückte wieder auf die Rentabilität des Ackerbaus. Wesentliche technische Fortschritte wurden nicht gemacht; nur vereinzelt ging man von der Zweifelderwirtschaft mit jährlich wechselnder Brache zur Dreifelderwirtschaft über. So wurde das Ackerland in immer größerem Umfang zum Gemüsebau verwendet oder in Wein-und Ölpflanzungen umgewandelt. Jetzt aber drang der Krieg verheerend in immer weitere Gebiete. Nicht nur in Attika waren alle Anpflanzungen vernichtet, sondern ebenso im Gebiet von Korinth, Phlius, Sikyon und weithin auf den Inseln (vor allem auf Chios) und an den Küsten Kleinasiens; wo immer der Krieg seinen Sitz aufgeschlagen hatte, ließ er eine Einöde zurück. Dadurch [276] wurde die natürliche Entwicklung noch beschleunigt. Zahllose Bürger waren ihres Lebensunterhaltes beraubt, und viele der verarmten Grundbesitzer waren froh, wenn sie ihren Acker gegen eine Summe Geldes losschlagen konnten. In die Lücke trat das Kapital; der Untergang des bäuerlichen Mittelstandes beginnt und mit ihm die Vereinigung des Grundbesitzes in wenigen Händen, welche im nächsten Jahrhundert eines der entscheidenden Momente für den Rückgang der Bevölkerung gebildet hat. Mit dem Kapital und dem Großbetrieb kam die Sklavenarbeit, die jetzt auch in der Landwirtschaft immer größere Ausdehnung gewann; die fortwährenden Kriege warfen billiges Menschenmaterial in Masse auf den Markt. Auch sie drang stets tiefer ins Binnenland ein; in Phokis, dessen Landgemeinden bis dahin die Sklaverei noch fast fremd war – es erregte hier Aufsehen, wenn eine vornehme Dame sich von zwei Dienerinnen begleiten ließ –, importierte um 360 ein reicher Unternehmer Mnason von Elatea 1000 Sklaven500, unbekümmert um den Notschrei seiner Landsleute, daß dadurch ebensoviel Bürgern der Lebensunterhalt genommen sei. Aber auch für den wirtschaftlichen Betrieb bedeutete diese Umwandlung in der Regel weit mehr als einen einfachen Besitzwechsel. Der bürgerliche Grundbesitzer, der sich selbst um seine Wirtschaft kümmert und mit den Knechten aufs Feld geht, ist zwar das Ideal Xenophons, das er selbst zu verwirklichen suchte, als die Spartaner ihm in Skillus südlich von Olympia ein Landgut schenkten; aber eben seine Schilderung beweist, eine wie seltene Ausnahme er bildete. Vielmehr ist die ganze Kultur städtisch geworden: der Grundbesitz, ehemals die Basis der sozialen und politischen Existenz der höheren und im Staat herrschenden Stände, wird jetzt eine Beigabe zum Reichtum und ein Besitz neben vielen anderen und oft genug ein Objekt der Spekulation. – Und nun wird der Notstand, aus dem ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr herauskam, noch künstlich vermehrt durch den Krieg und durch die Politik. Im Peloponnes hält Sparta jede fortschrittliche Entwicklung nieder, welche Handel und Gewerbe [277] fördern und dem kleinen Mann Erwerb und Wohlstand verschaffen könnte. Wie es den elischen Staat zersprengte, so hätte es am liebsten alle Städte auf den Zustand der Landgemeinden der Urzeit zurückgeschraubt, und in Mantinea hat es das in der Tat durchgeführt (u. S. 289f.). Die letzte Konsequenz derartiger Zustände, die völlige Demoralisation, Eheflucht und äußerste Beschränkung der Kinderzeugung, war noch nicht eingetreten. Vielmehr ist die Bevölkerungszahl, wenigstens in den Binnenstädten – in Athen wird das schon anders gewesen sein –, noch immer im Zunehmen, vor allem im Peloponnes, während die Bedingungen der Ernährung nicht einmal stabil bleiben, sondern gewaltig zurückgehen. So ist das Ergebnis ein fortwährendes Anwachsen eines besitz- und erwerblosen Proletariats, dem alle Subsidenzmittel genommen sind501.

In früheren Zeiten war die überschüssige Kraft des griechischen Volkes von der Kolonisation aufgenommen worden. Dafür ist jetzt kein Raum mehr; es ist eine seltene Ausnahme, wenn noch einmal ein Staat wie Paros (o. S. 154), vielleicht infolge innerer Wirren, den Versuch einer Kolonialgründung wagt. Als einzige Erwerbsquelle bleibt daher für die Besitzlosen, wenn der Staat sie nicht ernährt wie in Athen, der Krieg. Auch hier arbeitet die politische Gestaltung der ökonomischen Entwicklung in die Arme. Die ununterbrochenen Kriege fördern die Ausbildung der Kriegskunst; das alte Bürgerheer genügt den gesteigerten militärischen Anforderungen nicht mehr. Überdies sind die Kräfte der Bürgerschaften erschöpft. Die Besitzenden, auf denen bisher der Hoplitendienst lastete, weigern sich, jahraus jahrein ins Feld zu ziehen; wenn sie schon die Steuern für den Krieg zahlen müssen, wollen sie wenigstens persönlich unbehelligt bleiben und daheim ihren Geschäften nachgehen, um nicht gänzlich ruiniert zu werden. Und nun sind Menschen genug da, die mit Freuden jedem Werberuf folgen, für welche Sache es auch sein mag, wenn sie nur genügend bezahlt werden oder wenigstens Aussicht haben, gute Beute zu [278] machen. So sind schon im Peloponnesischen Krieg Söldner verwert worden; und als dann Friede ward und die Staaten abrüsteten, hatten nicht nur diese, sondern auch zahlreiche Bürger, die bisher in den Heeren gedient hatten, ihren Lebensunterhalt verloren. Die Folgen zeigten sich sofort: als Kyros sein Heer warb, strömten aus ganz Griechenland die Söldner unter seine Fahnen; über die Hälfte aber waren Arkader und Achäer aus dem Peloponnes (Xen. Anab. VI 2, 10). Wie dann im Kriege gegen Sparta das Söldnerwesen anwächst, haben wir schon gesehen: für die großen Schlachten rücken noch die Bürgertruppen ins Feld, aber den langen Krieg bei Korinth haben Iphikrates und seine Kollegen im wesentlichen mit Söldnern geführt. Die Spartaner, die ihre Bürgertruppen trotz ihrer vorzüglichen Schulung noch mehr schonen müssen als irgendein anderer Staat, machen es nicht anders, und wie schon Agesilaos in Kleinasien (o. S. 198f.), so sind sie in der Folgezeit gern bereit, ihren Bundesgenossen entgegenzukommen und Stellvertretung und Loskauf für die Besitzenden zuzulassen (u. S. 301). Im J. 378 führen selbst zwei arkadische Gemeinden ihre Fehden mit Söldnern (Xen. Hell. V 4, 36f.). Wie stark die Zahl der gewerbsmäßigen Söldner von Jahr zu Jahr wuchs, geht daraus hervor, daß inmitten des Krieges in Griechenland der Peloponnes auch noch den Hauptwerbeplatz für Dionys abgeben konnte; und dazu hatten die kleinasiatischen Satrapen griechische Söldner in ihren Diensten. Jetzt nach dem Frieden und der Auflösung der griechischen Heere waren diese kräftigen Arme auf den Dienst bei den Persern gegen Cypern und Ägypten angewiesen – das war bei der Entscheidung des Königs mit in die Waagschale gefallen. Wer aber nicht in die Dienste des Perserkönigs oder seiner Gegner oder etwa in die des Dionys gehen wollte, für den blieb in der Heimat kaum etwas anderes übrig als ein Banditenleben, wie für die Scharen der Exulanten, welche von ihrem Vermögen nichts gerettet und nicht in einer fremden Stadt Aufnahme und Unterstützung gefunden hatten. So füllten sich die Landstraßen mit Räubern, die Meere mit Piraten. »Der Mangel an Erwerb«, schreibt Isokrates im J. 380, »sprengt die politischen Verbindungen und verfeindet die Verwandten und stürzt alle [279] Menschen in Krieg und Revolution, so daß der eine Teil in seiner Heimat widerrechtlich erschlagen wird, die anderen mit Weib und Kind in die Fremde getrieben werden und umherirren müssen und viele, weil sie nichts zu leben haben, gezwungen sind, für ihre Feinde gegen ihre Freunde zu kämpfen und zu fallen« (4, 174. 168; vgl. 115). Von Jahr zu Jahr verschlimmerten sich diese Zustände. »Zur Zeit des Kyros und Klearchos'«, sagt derselbe Schriftsteller im J. 346, »gab es in Griechenland noch kein Söldnerkorps, so daß diese, als sie ihre Truppen warben, für die Werber mehr Geld ausgeben mußten als für die geworbenen Soldaten; jetzt aber steht es um Hellas so, daß man mit weniger Mühe ein größeres und besseres Heer aus den heimatlos Umherirrenden zusammenbringen kann als aus der Bürgerschaft in den Städten« (5, 96). Wie zu allen Zeiten gehen auch in Griechenland der Sieg des Kapitalismus und die Proletarisierung der Massen Hand in Hand. Exulanten, Söldner und Banditen bilden mit dem Proletariat zusammen die große Umsturzarmee, die jedem Abenteurer zur Verfügung steht; zu verlieren haben sie nichts mehr, nur die Revolution kann ihnen Erlösung bringen. Auch für Dionys sind sie die festen Stützen seiner Macht, trotzdem er als Parteigänger der Aristokraten begonnen hatte und es seinen Tendenzen nicht entsprach, diese zu vernichten. Ihnen gegenüber scharen sich die Besitzenden um jede Macht, die sie zu schirmen vermag. Alle anderen Gegensätze werden von diesem mächtigsten verschlungen, wenn auch wie in jeder fortgeschrittenen Entwicklung die alten Schlagwörter bleiben und es immer noch ehrliche Leute gibt, die für diese zu fechten wähnen. Immer unverhüllter erhebt sich aus den politischen Kämpfen der erbitterte, rücksichtslos durchgeführte Klassenkampf.

Mit dem Berufssoldaten entwickelt sich der Berufsoffizier. Bereits im J. 400 treibt sich am Bosporos ein Condottiere Koiratadas von Theben herum, der im J. 409 unter Klearchos Führer der böotischen Besatzung in Byzanz gewesen war (Xen. Hell. I 3. 15. 21f.); er zieht von Ort zu Ort und bietet den Städten seine Dienste an (Xen. Anab. VII 1, 33). Die Obersten und Hauptleute in Kyros' Heer waren Leute desselben Schlages. Schon seit dem Archidamischen Kriege ist in Athen das Feldherrnamt tatsächlich ein [280] Beruf geworden, und bald wird es völlig unmöglich, einen Krieg anders als mit gewerbsmäßigen Strategen zu führen; man muß froh sein, wenn man deren eine genügende Zahl unter der Bürgerschaft besitzt wie Athen in Iphikrates und Chabrias und bald daneben in Timotheos und Chares. Wenn es daheim keine Beschäftigung für sie gibt, so suchen sie wohl in der Fremde Dienst, in Ägypten oder beim Perserkönig oder in Thrakien; die Heimat meiden sie in Friedenszeiten, um sich der Anfeindung und den Parteikämpfen zu entziehen. Wie Alkibiades, das Vorbild der gesamten modernen Entwicklung, werden sie zu selbständigen Mächten; sie treiben Politik auf eigene Hand. So hat Konon die Wege gefunden, Athen wiederherzustellen; als eine Macht für sich steht er zwischen Athen und Persien; und selbst Thrasybulos, so sehr er sich von den anderen unterscheidet, ist schließlich auf diese Bahn gedrängt worden. Wie unter ihrer Leitung die Taktik sich vervollkommnet und die Operationen und Schlachten verwickelter und vielgestaltiger werden, haben wir bereits gesehen. Das wirkt dann wieder fördernd auf das Söldnerwesen und die Zerstörung des alten Bürgertums zurück. Weil Sparta der neuen militärischen Entwicklung nicht mehr zu folgen vermochte, ist seine Macht vernichtet worden. Die alten Kulturstaaten verlieren die Leitung. Wie im alten Ägypten, als die Söldner und die Libyer die Herrschaft gewannen, und wie im Römerreich, als die Kulturwelt das Schwert aus der Hand gegeben hatte, gewinnen die rohen, aber wehrkräftigen Elemente, die noch Schlachten zu schlagen imstande sind, die Herrschaft: neben den Söldnern und ihren Führern, den modernen Tyrannen und militärischen Usurpatoren, die in der Kultur zurückgebliebenen Gebiete, zunächst die Böoter und Thessaler, dann die Phoker. Makedonen, Ätoler.

Auch in den Handels- und Industriestädten steht es nicht wesentlich besser, trotz ihrer modernen Grundlage. Zwar sind die Ansprüche an das Leben mit der steigenden Kultur überall gewachsen und nur um so größer geworden, je mehr in der allgemeinen Unsicherheit die Gier wächst, den Moment zu genießen; das Leben im Mutterlande wird dem der italischen und sizilischen Griechen immer ähnlicher. Dementsprechend haben sich die [281] Gewerbe und Industrien vermehrt und ihre Technik vervollkommnet. Man fordert gute, kunstvoll gearbeitete Waren und zahlreiche Luxusartikel, von denen die frühere Zeit noch keine Ahnung hatte; namentlich in der Kochkunst überstürzen sich die Erfindungen und die neuen Delikatessen. Die Folge ist eine raffinierte Arbeitsteilung wie nur in den modernen Gewerben. »In kleinen Städten«, sagt Xenophon einmal (Cyrop. VIII 2, 5), »macht derselbe Mann Bett, Tür, Pflug, Tisch, ja oft baut er daneben noch Häuser und ist froh, wenn er dadurch Kunden genug hat, um leben zu können; es ist aber unmöglich, daß jemand, der viele Gewerbe betreibt, alles gut macht. In den Großstädten aber genügt infolge des großen Absatzes jedem Handwerker ein Gewerbe zum Lebensunterhalt und oft nicht einmal ein ganzes, sondern der eine macht Männer-, der andere Damenschuhe, und in manchen Städten ist der eine nur Flickschuster, der andere verschneidet das Leder, und im Schneidergewerbe ist der eine lediglich Zuschneider, der andere näht ausschließlich die zugeschnittenen Stücke zusammen.« Der Warenaustausch, der Import und Export, die Produktion für den Handel sind so unentbehrlich und so entwickelt wie je: »Daß eine Stadt an einem Ort liegt, wo sie keine Einfuhr nötig hat«, sagt Plato (rep. II 370 e), »ist so gut wie unmöglich; wenn aber der Kaufmann mit leeren Händen kommt und nichts bringt, was die Leute brauchen, von denen er einführen will, so wird er auch mit leeren Händen zurückkehren; mithin muß man daheim neben dem eigenen Bedarf auch solche Waren in genügender Qualität und Quantität produzieren, welche jene brauchen. Für den Vertrieb aber sind neben den Kaufleuten, welche den Handel nach auswärts betreiben, auch Krämer unentbehrlich, welche auf dem Markt sitzen und den Detailhandel betreiben502.« So gab es denn hier Leute genug, welche zu Wohlstand und Reichtum gelangten. Vor allem blühten die Geldgeschäfte; [282] die Spekulation warf oft gerade infolge der Unsicherheit der Verhältnisse nur um so größeren Gewinn ab; wer Geld hatte, brachte es auf Zinsen in ein Bankgeschäft; aus den Wechslern und Geldverleihern wurden Bankiers, die über große Kapitalien und ausgedehnten Kredit verfügten. Wenn der Seehandel infolge der Unsicherheit der Meere und der fortwährenden Kriege viel gefährdeter war als im fünften Jahrhundert, so verteilte man das Risiko durch Aufnahme von hochverzinsten Darlehen auf Schiff und Ladung und Bildung von Handelsgesellschaften. Der Wert des Geldes sank ununterbrochen, und die Preise stiegen. Am deutlichsten wird das dadurch illustriert, daß in Athen die Diäten für die Volksversammlung in den etwas über 60 Jahren von ihrer Einführung durch Agyrrhios (o. S. 238f.) und ihrer Erhöhung auf 3 Obolen bis auf Aristoteles' Zeit auf das Doppelte (1 Drachme, 90 Pf.), ja für die erste Versammlung in jeder Prytanie auf 9 Obolen (1,35 Mark) gestiegen sind. Selbst die Pension für besitzlose Invaliden, d.h. die Armenunterstützung, haben die Athener in dieser Zeit von 1 auf 2 Obolen für den Tag erhöht.

Trotz alledem und trotz der gewaltigen Vermögen einzelner Kapitalisten ist der durchschnittliche Wohlstand der Gesamtbevölkerung im Verhältnis zu den Lebensbedürfnissen auch in den am günstigsten gestellten Städten im Vergleich mit den Zuständen des fünften Jahrhunderts gesunken. Athen ist nach wie vor die erste Industriestadt, der Piräeus der erste Hafen der griechischen Welt, hinter dem auch das von Dionys umgeschaffene Syrakus beträchtlich zurücksteht; und außerdem ist es als die geistige und künstlerische Kapitale von Hellas allgemein anerkannt. Die agrarische Opposition, die während des Peloponnesischen Krieges um ihre Existenz kämpfte, ist hier vollständig erlegen und hat jetzt keine Bedeutung mehr; in Personenfragen mögen die Reste der Partei noch einmal einen Erfolg erringen, in der Politik aber sind sie ohnmächtig, und wenn sie sich den vollendeten Tatsachen nicht fügen wollen, bleibt ihnen nichts übrig, als sich grollend vom öffentlichen Leben zurückzuziehen. Aber die siegreichen Kapitalisten können ihres Lebens nicht froh werden; statt daß sie jetzt die Macht in vollen Zügen genießen könnten, ist ihnen das [283] Proletariat übermächtig an die Seite getreten. Sie selbst haben es großgezogen und ihm die politischen Rechte verliehen, in dem Glauben, es beherrschen zu können, nachdem sie mit seiner Hilfe die Aristokraten und Agrarier niedergeworfen hatten. Jetzt mußten sie erkennen, daß sie sich in ihm einen Herrn gesetzt hatten, dessen Joch sie nicht wieder abschütteln konnten. Das Proletariat hatte gelernt, auf Kosten des Staats und seiner Machtstellung zu leben; jetzt war diese weggefallen, aber die Ansprüche blieben. Zu Wohlstand konnten immer nur einzelne gelangen, aber niemals die Masse, zumal bei der Konkurrenz, die ihr die Sklavenarbeit machte, und bei den Ansprüchen, welche der freie Bürger zu erheben sich berechtigt hielt. So wächst denn in Athen wohl die Zahl der Metöken, und manche von ihnen werden schwerreiche Leute, z.B. Wechsler und Spekulanten aus dem Sklavenstande wie in den ersten Jahrzehnten des vierten Jahrhunderts Pasion und dann sein Freigelassener und Geschäftsführer, der sein Bankgeschäft übernahm. Anders steht es mit der bürgerlichen Bevölkerung. Aus dem Tiefstande der ersten Jahre nach der Revolution hat sich ihre Zahl allerdings wieder gehoben; die besitzlosen Bürger mögen von 5000 (o. S. 215f.) auf das Doppelte und Dreifache gewachsen sein, und nach Korinth konnte Athen im J. 394 gegen 6000 Hopliten, 600 Reiter senden. Aber von da an bleibt die Bürgerzahl stabil; im J. 322 ergab ein Census 9000 Bemittelte, 12000 Besitzlose, und viel höher kann der Stand der bürgerlichen Bevölkerung auch in der Mitte des Jahrhunderts nicht gewesen sein. Der Grund lag nicht etwa in Seuchen und schweren Verlusten im Kriege, wie im fünften Jahrhundert, sondern darin, daß für einen Nachwuchs kein Raum mehr war und deshalb die Zahl der Eheschließungen und Geburten möglichst beschränkt wurde503. Die Ärmeren forderten ihren Lebensunterhalt vom Staate, d.h. einstweilen, bis es gelungen wäre, ein Herrschaftsgebiet wieder zu gewinnen, das man [284] ausbeuten konnte, von den Reichen. Bis aufs äußerste waren diese durch die ununterbrochenen Steuern und Liturgien belastet; und dabei schwebte jederzeit über ihnen die Gefahr einer peinlichen Anklage, bei der Leben und Besitz der Laune eines demokratischen Gerichtshofs preisgegeben war und im besten Falle von den Künsten eines geriebenen Advokaten abhing. »Um Athen ist es so bestellt«, schreibt Isokrates im J. 355 (8, 127f.), »daß kein einziger Bürger sorglos und in Behagen leben kann, sondern die Stadt voll ist von Jammer. Denn die einen haben alle Nöte der Armut und des Mangels zu ertragen, die anderen aber die Fülle von Verfügungen und Liturgien und das Elend der Steuererhebungen und Prozesse wegen Vermögenstausch; das ist so arg, daß die Vermögenden in größerer Bekümmernis leben als die, welche am Hungertuch nagen.« Die besitzlose Masse ist ein gefügiges Werkzeug in der Hand jedes gewissenlosen Agitators, der unter dem Versprechen, ihnen Macht und Wohlstand zu verschaffen, seine eigene Macht zu gründen und seine Taschen zu füllen suchte, bis er dann von einer neuen Sturmwoge hinweggeschwemmt und durch einen gleichgearteten Rivalen ersetzt wurde. Wohl finden sich immer noch tüchtige und ehrliche, zum Teil hochbegabte Politiker, aber auf die Dauer hat sich keiner zu behaupten vermocht, und die Mehrzahl der vornehm gesinnten Männer, die in früheren Zeiten in der politischen Tätigkeit zum Wohle ihrer Mitbürger ihren natürlichen Beruf sah, wendet sich wie Plato mit Ekel und Verzweiflung von dem öffentlichen Leben ab. So macht Athen wohl einen Anlauf nach dem andern, aber jeder scheitert nach kurzem Erfolge. Die alte Kraft des Staates ist gebrochen; alle Versuche, sich wieder zu erheben, offenbaren nur die innere Ohnmacht, zu der es herabgesunken war.

Das kleine Megara, im fünften Jahrhundert zwischen Athen und den Peloponnesiern vom Parteihader zerrissen und ganz heruntergekommen, hat im vierten unter der Herrschaft der Demokratie (o. S. 228) verstanden, durch geschickte Politik seine Neutralität nach Kräften zu wahren – wenn es auch nach dem Königsfrieden Sparta wieder Heerfolge leisten mußte – und dadurch seinen Wohlstand zu heben, nicht mehr als Agrarstaat wie [285] ehemals, sondern als Industriestaat; namentlich seine Hemdenwirkereien, die mit Sklaven betrieben wurden, fanden großen Absatz504. Korinth dagegen lag vollständig danieder. Sein Kolonialreich war vernichtet, die Revolution, welche eine weise Regierung so lange fern gehalten hatte, hatte jetzt auch diese Stadt ergriffen wie ein Menschenalter zuvor ihren Rivalen Korkyra. Argos, nach wie vor von allen griechischen Staaten derjenige, den wir am wenigsten greifen können, hatte im Sonderbundskriege schwere innere Krisen durchgemacht, und wenn seitdem die Parteikämpfe geruht zu haben scheinen, so sollte sich hier die Revolution alsbald nur um so furchbarer entladen. Die Gebiete des alten attischen Reichs waren aus der steigenden Prosperität, deren sie sich trotz aller Beschwerden über Athens Exzesse erfreut hatten (Bd. IV 1, 719), jäh herausgeworfen, von Krieg und Revolution verheert, durch die Abgaben und Kontributionen, die Sparta, Persien, Athen abwechselnd erhoben, ausgesogen, während der Handel stockte und der Landbau daniederlag. Am schwersten hatten die Kykladen, Thasos und die ionischen Städte gelitten; besser war es, abgesehen von den von Athen wieder eroberten und zerstörten Orten, den Chalkidiern ergangen, die sich um Olynth zusammengeschlossen und ihre Unabhängigkeit siegreich behauptet hatten und seit 413 von dem Kriege kaum mehr direkt berührt waren. Rein materiell betrachtet waren jetzt vielleicht die Städte des asiatischen Festlandes am besten daran. Die nationale Unabhängigkeit hatten sie definitiv verloren, und mancherlei Bedrückungen und Gewalttaten der persischen Beamten und Garnisonen mußten sie über sich ergehen lassen; aber die Autonomie war für sie seit der Lyderzeit immer nur ein Trugbild gewesen. Dafür machte die Perserherrschaft dem äußeren Kriege und dem inneren Hader ein Ende und stellte die Verbindung mit dem Hinterlande wieder her, auf der ehemals die Blüte dieser Städte beruht hatte. Ephesos hatte daraus, daß es jahrelang das Hauptquartier der Spartaner bildete, bedeutenden Vorteil gezogen; und jetzt erhob sich in Karien ein Fürstengeschlecht, das es verstand, die materiellen Interessen der Städte [286] seines Gebiets mit allen Kräften zu fördern. Die Städte an der Propontis wurden den griechischen Händeln allmählich entrückt und konnten alsbald, wie die am Pontos, daran denken, ihre eigenen Wege zu gehen. Auch die größeren Inseln an der Westküste Kleinasiens, vor allem Rhodos und Chios – Samos hat sich von den Nachwirkungen der blutigen Revolution nicht wieder völlig erholen können –, profitierten von ihrer Zwischenstellung zwischen dem übrigen Griechenland und dem Perserreich. Auch Kos nahm an dieser aufsteigenden Entwicklung teil: im J. 366 verlegten die Bewohner die Hauptstadt, ähnlich wie die Rhodier 408, auf die Nordostspitze der Insel, mit trefflichem Hafen, und erbauten hier eine der schönsten Städte der griechischen Welt505. Dazu wuchs in den nun folgenden 50 Jahren, die der Friede mit Persien bestehen blieb, der griechische Einfluß auf Vorderasien ständig. Griechische Söldner waren dem Reich und allen Machthabern unentbehrlich; das westliche Kleinasien füllte sich mit griechischen Kaufleuten und Abenteurern aller Art, griechische Kunst und griechisches Wesen wurden allen der Küste näher gelegenen Plätzen vertraut, die westlichen Satrapenhöfe gerieten immer mehr unter griechischen Einfluß, ja die karischen Dynasten betrachteten sich kulturell bereits vollständig als Hellenen (u. S. 311). So bereitet sich allmählich die nochmalige Verschiebung des Schwerpunkts der griechischen Welt von Europa nach Vorderasien vor, die äußerlich das Endergebnis der Geschichte der griechischen Nation gewesen ist506.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 270-287.
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