Das Eingreifen Babyloniens. Die Assyrer in Kappadokien und die vorderasiatische Gesamtkultur

[11] Die Eigenart dieser Volksstämme tritt uns seit dem 2. Jahrtausend sowohl in der Gestaltung ihres Staates wie in der ihrer Religion und Kunst entgegen. Aber ins geschichtliche Leben und in einen größeren Kulturzusammenhang sind sie schon weit früher hineingezogen worden durch die Einwirkung, die von dem zentralen Kulturgebiet Vorderasiens vom Euphrat und Tigris aus auch diese Landschaften ergriffen hat. Dadurch erklärt es sich, daß der Schwerpunkt der Entwicklung Kleinasiens im 3. und 2. Jahrtausend in der weiten kahlen Hochebene im Osten liegt, die der Halys in großem Bogen durchzieht ohne sie zu befruchten, also in einem Gebiet, in dem man ihn am wenigsten suchen würde, während die reichen Landschaften des Westens völlig zurücktreten.

So unzulänglich auch unsere Kunde über die Ausdehnung der alten Reiche von Sinear immer noch ist, so kann doch kein Zweifel sein, daß das von Sargon von Akkad um 265016 begründete »Reich der vier Weltteile« nicht nur Elam und die Zagrosgebiete, Mesopotamien und Nordsyrien nebst Cypern umfaßt, sondern auch tief ins östliche Kleinasien hineingegriffen hat (vgl. Bd. I, 398. 402 a). Aus den Sagen von Sargon besitzen wir jetzt den Eingang einer Erzählung, wie aus dem weit abgelegenen, durch unwegsame Gebirge von [11] Akkad getrennten Lande am Berge Galašu die Kaufleute ihn zu Hilfe riefen gegen den König von Buršachanda oder Burušchanda, und er sich nach langem Zögern und vielfachen Wechselreden zu dem Kriegszug entschließt17. Die Stadt Burušchanda wird in den aus Kappadokien stammenden Texten häufig erwähnt; danach kann an der Lokalisierung kein Zweifel sein. Daß die Sagenerzählung, wenn sie auch erst viel später gedichtet ist, einen historischen Kern enthält, wird dadurch bestätigt, daß ein in Form einer Königsinschrift gefaßter Bericht über die Taten Naramsins unter den von ihm bekämpften Völkern auch die »Scharen der Manda«, der Barbarenstämme des Nordens, erwähnt und von einer Koalition von siebzehn Königen berichtet, die er besiegt habe; unter diesen erscheint Pamba, der König von Chatti, Chutuni, der König von Kanis, ferner neben denen zahlreicher anderer Orte der von Kursaura, d.i. Garsaura im westlichen Kappadokien in der Nähe des Tattasees, sowie der König von Amurri und der König von Arman im Zagrosgebiet, dessen Besiegung auch das Fragment einer Platte aus Tello erwähnt18.

Die Erzählung von Sargon setzt voraus, daß zu seiner Zeit bereits akkadische Kaufleute (tamkarê) im östlichen [12] Kleinasien inmitten der fremden Bevölkerung ansässig waren und Handel treiben; ihr Führer trägt den Namen Nûrdagan19. Dieser Zustand tritt uns dann in der Folgezeit ganz anschaulich entgegen in zahlreichen Dokumenten, die in stets wachsender Zahl an verschiedenen Stellen Kappadokiens zutage getreten sind, vor allem im Kültepe, dem Zentrum dieser Ansiedlungen östlich von Kaisarije und dem Argaeos (Bd. I, 435), vielleicht der Stätte der in diesen Texten häufig genannten Stadt Kanis (vgl. o. S. 5), aber z.B. auch in Boghazkiöi. Es sind Tontäfelchen mit Geschäftsurkunden verschiedenster Art in babylonischer Keilschrift. Eine von ihnen trägt den Siegelabdruck des Ibisin, Königs von Ur (2200-2176), und beweist somit, daß das Reich von Sumer und Akkad unter dieser Dynastie auch diese Gebiete umfaßt hat; auf einer andern steht der des Sargon (Sarrukin), Patesi von Assur, Sohn des Ikûnum, der wahrscheinlich um 1950 anzusetzen ist20; daraus ergeben sich als Zeit für die Hauptmasse dieser Urkunden die letzten Jahrhunderte des 3. Jahrtausends. Dazu stimmt sowohl die Gestalt der Schriftzeichen wie die Darstellungen derjenigen Siegel, die babylonischen Typus tragen, während andere primitive einheimische Motive verwenden (vgl. o. S. 10). Das ganz überraschende und rätselhafte ist nun aber, daß in ihnen nicht etwa Babylonien, sondern Assyrien als maßgebend hervortritt. Datiert werden sie nach den assyrischen Jahrbeamten (limu), der Kalender ist der assyrische, das Recht das von Assur, »vor dem Dolchschwert Assurs« wird Zeugnis abgelegt, auch die Sprache zeigt in einzelnen Abweichungen vom Akkadischen Sinears assyrische Färbung. Unter den Personennamen überwiegen die spezifisch assyrischen wie Ikûnum u.a., darunter vor allen die mit dem Gottesnamen Assur und Istar gebildeten; daneben finden sich natürlich auch [13] akkadische und viele, die der ein heimischen Bevölkerung angehören21.

Diese Tatsachen zwingen zu der Annahme, daß sich die Assyrer im 3. Jahrtausend weithin über die Gebirgslande in Nordwesten bis tief nach Kleinasien hinein ausgebreitet und das ganze gewaltige Gebiet unter der Oberleitung der Regierung von Assur zu einer Einheit zusammengefaßt haben. Es ist aber, soweit wir bis jetzt sehn können, nicht sowohl eine kriegerische Eroberung gewesen, als eine friedliche Invasion durch Händler und Kaufleute und daneben durch Kolonisten, die sich als Bauern in den einzelnen Ortschaften niederließen und damit zugleich kultivierte Zustände unter festgeregelten Rechtsordnungen in diese fernen Gebiete getragen haben. So wird es sich auch erklären, daß der Assyrername an den Landschaften des östlichen Kleinasiens bis über den Halys hinaus nach Sinope an dieser Landschaft bis ins 5. Jahrhundert hinein haften geblieben ist22. Den militärischen Schutz dagegen übernimmt der Großkönig in Sinear, wie es die Sagenerzählung darstellt. Ein selbständiges [14] Reich und gar eine Großmacht ist Assyrien im 3. Jahrtausend und noch bis zum Ende des Amoriterreichs von Babel hinab niemals gewesen; keiner der Fürsten von Assur führt den Königstitel, sondern neben der Bezeichnung seiner sakralen Stellung lediglich den eines Patesi23. Das wird vermutlich mit der eigenartigen politischen Gestaltung Assurs zusammenhängen; die Fürsten sind die Hohenpriester Assurs, aber neben ihnen stehn die weltlichen [15] Beamten mit dem eponymen Jahrbeamten an der Spitze, der in der alten Zeit ähnlich den griechischen Archonten und Prytanen wirklich eine selbständige Macht besessen haben muß. Auch die Rechtspflege lag nicht in den Händen der Könige, und die assyrischen Rechtssätze, von denen uns jetzt umfangreiche Aufzeichnungen aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends vorliegen24, sind nicht etwa ein vom Herrscher erlassenes Gesetzbuch wie das Chammurapis und anderer babylonischer Könige, sondern Kodifikationen des geltenden Volksrechts. Dem entspricht es, daß wir in den Ortschaften Kappadokiens, Kanis, Burušchatu u.a. Gerichtshöfe (garum, karrum) finden – offenbar aus den Ältesten gebildet, wie in den babylonischen Städten auch – und als Oberinstanz das Gericht »der Stadt«, d.i. wahrscheinlich das von Assur selbst.

Wie die Einzelgestaltung auch gewesen sein mag, zweifellos ist, daß sich in Vorderasien unter babylonischer Vorherrschaft ein großes Kulturgebiet mit assyrischer Färbung gebildet hat, das die Landschaften vom Schwarzen Meer und dem Halys bis zur arabischen Wüste, von Cypern und der Mittelmeerküste bis nach Elam und weit in die Gebirgsketten des iranischen Hochlandes hinein unter wohlgeordneter Verwaltung und festen Rechtssätzen in regem Handels verkehr zusammenfaßt. Dieser Verkehr führte zu einer ständig anwachsenden Mischung der Bevölkerungen, die in den Personennamen, in der Verbreitung assyrischer und babylonischer Namen in Kleinasien und Syrien, der von Mitaninamen in Babylonien und Assyrien deutlich erkennbar ist (Bd. I, 433. 454). Daraus erwächst, über alle Sonderart der einzelnen Volksstämme hinweg, eine homogene »vorderasiatische« Kultur. Sie beherrscht alle Seiten der materiellen Lebensgestaltung und tritt im Geschäftsverkehr und den für diesen maßgebenden Rechtsanschauungen und Rechtsformen ganz anschaulich [16] zutage, in der Verwendung der schriftlichen Urkunden aus Ton (mit einer Umhüllung, auf der der Wortlaut wiederholt ist) und der Beurkundung durch eine große Zahl von Zeugen unter Beidruck ihres Siegels25, in den Formen des Kaufs, in Darlehen und Zinsfuß, im Pfandrecht, in den Pachtungen der Grundstücke, in der Verdingung zu Lohnarbeiten, und nicht minder im Eherecht sowie im Sklavenrecht und in der Vermietung der Sklavenarbeit auf bestimmte Frist; dazu kommt die überall herrschende Geldrechnung nach reinem Silber, mit babylonischem Gewicht (1 Mine = 60 Scheqel). Wie im Warenverkehr, so besteht in Handwerk und Technik ein reger Austausch. Für die Lebensformen sei angeführt, daß neben dem Wein ein primitives Gerstenbier überall verbreitet ist; da in dem Getränk die Gerstenkörner schwammen, wird es durch knotenlose Rohrhalme aus dem Kruge gesaugt26. Auch auf religiösem Gebiet geht die Wechselwirkung andauernd weiter: babylonische Götter mit ihren Mythen und Zauberformeln, Symbolen und bildlichen Darstellungen verbreiten sich wie nach Syrien so nach Kleinasien, und umgekehrt haben die »chetitischen« Stämme es vermocht, für ihre von der babylonischen gänzlich verschiedene Auffassung der Welt und der göttlichen Mächte durch die Mittel einer noch ganz primitiven Kunst dennoch eine anschauliche und eindrucksvolle Verkörperung zu schaffen, die sowohl auf Assyrien wie auf die syrischen Lande stark eingewirkt hat27.

[17] Es ist für die Geschichte Sinears charakteristisch, daß keine der zahlreichen aufeinander folgenden Dynastien ihre Macht lange hat behaupten können. So ist auch das Reich von Ur nach einem Bestande von wenig mehr als einem Jahrhundert – die fünf Könige der Dynastie haben zusammen 117 Jahre regiert, ca. 2296-2180 – einer elamitischen Invasion erlegen, die den letzten König, Ibisin, gefangen fortführte. Dann zerfällt das Reich in eine Anzahl kleinerer Staaten, unter denen die nebeneinander stehenden Dynastien von Isin und von Larsa die bedeutendsten sind, die beide den Titel von Königen von Sumer und Akkad führen, von denen aber namentlich die von Larsa nur ein Spielball in den Händen der Elamiten gewesen zu sein scheint28. Daneben entsteht in Babel seit 2049 das Amoriterreich29, und diesem [18] gelingt es, nach mancherlei Schwankungen, unter Chammurapi (1947-1905) noch einmal das ganze Land zu einigen und auch nach außen seine Macht kraftvoll zu entfalten. Trotz des Fehlens aller direkten Zeugnisse wird sich kaum bezweifeln lassen, daß ihm, wie Assyrien und Mesopotamien, so auch Nordsyrien und das östliche Kleinasien untertan gewesen sind; die kappadokische Urkunde mit dem Siegel des Sargon, Patesis von Assur (o. S. 13), fällt etwa in diese Zeit.

Jedenfalls hat in dieser Epoche, der letzten und abschließenden Glanzzeit Altbabyloniens, das freilich damals bereits mit raschen Schritten dem Versinken in innerer Erstarrung entgegenging, der Zusammenhang des vorderasiatischen Kulturgebiets nicht nur fortbestanden, sondern sich weiter ausgebildet. Sprache und Schrift Babyloniens haben sich über ganz Vorderasien verbreitet. Auch in Syrien, Palaestina und Cypern vollzieht sich der gesamte rege Schriftverkehr in akkadischer Sprache und Schrift, und an den Höfen jedes der lokalen Dynastien war ein Schreiber unentbehrlich, der diese beherrschte, die diplomatische Korrespondenz führte, und die Erlasse der Regierung abfaßte und bekanntgab. Hier behalf man sich in der Regel damit, daß man bei wichtigen oder zweifelerregenden Ausdrücken zur Erleichterung des Verständnisses das einheimische Wort als Glosse danebensetzte, sei es in kana’anäischer, sei es, im Norden, in der charrischen oder Mitanisprache; in dieser Gestalt ist hier später, zur Zeit der ägyptischen Oberherrschaft, auch die Korrespondenz mit den Pharaonen geführt worden. In dem zu Anfang des 2. Jahrtausends entstandenen Chetiterreich sind einige der ältesten Urkunden zwar mit einem chetitischen Königssiegel verschlossen, aber der Text ist akkadisch, und auch später hat man Verträge und offizielle Schreiben in dieser »babylonischen« Sprache abgefaßt. Das Schreibmaterial bildet überall die Tontafel – daneben bei Staatsverträgen und bei zauberkräftigen religiösen Urkunden die Metallplatte – nebst dem Schreibgriffel; daß die ägyptische Kursivschrift mit der Rohrfeder nur auf [19] Papyrus oder Leder, aber nicht auf Tontafeln verwendbar ist, hat offenbar, neben der langen politischen Abhängigkeit von Babylonien, das Hindernis gebildet, das ihr die Konkurrenz mit dem Akkadischen unmöglich machte. Gelernt wurde das Lesen in derselben, jahrelanges Studium erfordernden Weise, wie in Sinear selbst, oder vielmehr noch umständlicher. Die unentbehrliche Grundlage bildete die Kenntnis der sumerischen Formen und Lesungen, also die Erlernung einer längst erstorbenen Sprache; dann folgte ihre Umsetzung in die akkadischen Wörter, und diese wurden dann wieder für die Schreibung der ein heimischen Sprachen benutzt, gerade bei den geläufigsten Wörtern in der Regel so, daß man das akkadische Wort oder das dieses bezeichnende sumerische Äquivalent schrieb, es aber beim Lesen durch das einheimische Wort ersetzte. Daher waren lexikalische und grammatische Hilfsmittel hier ebenso unentbehrlich, wie in Babylonien und Assyrien selbst, und weiter als Leseübung literarische Texte, darunter Mythen und Sagen aller Art, denen dann Übersetzungen beigefügt werden mochten. Derartige Schriftstücke haben sich im Archiv von Boghazkiöi in großer Zahl gefunden; und nicht anders sind die Ägypter verfahren, wenn sie für den diplomatischen und Geschäftsverkehr die Tontafel und die Keilschrift verwenden und die fremden Dokumente lesen und beantworten wollten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 11-20.
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