Das charrische Reich Mitani

[28] Die Vormacht in den vorderasiatischen Gebieten ist in dieser Zeit auf das Reich von Mitani oder Chanigalbat übergegangen. [28] Sein Schwerpunkt liegt in dem Hügellande östlich vom Euphrat (dem »Stromlande« Naharain) am Fuß des Masiosgebirges (Tûr'âbdîn, bei den Assyrern Kašijargebirge), das von zahlreichen Bächen durchströmt ist, die sich zum Belichos und Chaboras vereinigen. Hier liegen mehrere Ortschaften alter Kultur, so Tell Chalâf (Guzana) bei Resaina, nahe der Chaborasquelle, mit Reliefs und Statuen im sumerischen Stil aus der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends (Bd. I, 466), ferner Charrân im Belichosgebiet, Nisibis u.a. Im Chaborasgebiet wird auch Wasuggani, die Hauptstadt des Mitanireichs, zu suchen sein. Weiter nach Süden geht das Kulturland in die felsige, lediglich von wandernden Nomadenstämmen bewohnte Einöde über, die sich bis an die Grenzen des babylonischen Tieflandes hinzieht; nur in den Tälern des Chaboras und des Euphrat finden sich mehrere Städte, darunter das von Samsiadad II. eroberte Tirqa, zeitweilig der Sitz eines selbständigen Fürstentums Chana (S. 27). Dieser Name ist wahrscheinlich eine Verkürzung von Chanigalbat; und mit diesem wohl in weit ältere Zeit zurückreichenden Namen wird das Reich, das sich offiziell Mitani nennt, im populären Sprachgebrauch der Folgezeit ständig bezeichnet47.

[29] Durch die Aufrichtung des Mitanireichs sind die Assyrer nach den vorübergehenden Erfolgen unter Samsiadad II. wieder ganz auf ihren Stammsitz am Tigris zurückgedrängt. Weiter im Süden hält das Reich von Karduniaš zwar seine großen Prätensionen aufrecht, ist aber unter der Herrschaft der kossaeischen Kriegerhorden und des von diesen auf den Thron gesetzten Königs ohne innere Kraft. Wenn König Agum II. (um 1650) sich rühmt, er habe die Bilder des Marduk und der Sarpanit aus Chana zurückgeholt und wieder im Tempel Esagilla in Babel aufgestellt, so ist das gewiß nicht durch einen siegreichen Kriegszug geschehn48, sondern er wird die bei einer Plünderung Babels – vielleicht der durch Mursil – geraubten Götterbilder durch diplomatische Verhandlung zurückgewonnen haben.

Die Bevölkerung des Mitanireichs bilden die Charrier (o. S. 6). Wie zahlreiche Personennamen zeigen, hatten diese sich auch nach Babylonien und Assyrien stark verbreitet49 und auch ihre Götter dorthin gebracht. Auch die Namen Auspia und Kikia, die uns als die ältesten Herrscher von Assur und Erbauer des Assurtempels und der Stadtmauer genannt werden, gehören diesem Sprachgebiet an (Bd. I, 433 a). Außerdem hat Syrien zu ihrem Machtbereich gehört; im nördlichen Syrien, so in Tunip, wird charrisch gesprochen, und charrische (Mitani-) Namen finden sich im 15. und 14. Jahrhundert unter den Dynasten bis nach Palaestina hinab zahlreich neben semitischen und arischen. Daß im übrigen die Verhältnisse ebenso schwankend gewesen sein werden, wie zur Zeit der babylonischen Oberherrschaft, bedarf kaum der Bemerkung. Manche Stadtherrscher werden sich zeitweilig oder dauernd unabhängig gemacht haben, in Verbindung mit den Kossaeerkönigen von Karduniaš, die die von ihren Vorgängern aus dem Reich von Sumer und Akkad oder der vier Weltteile ererbten Traditionen nie aufgegeben haben, so wenig wie sie imstande waren, sie zu verwirklichen. Von Aleppo (vgl. o. S. 26) erfahren wir, [30] daß es der Sitz eines Großkönigtums gewesen ist, bis es im 18. Jahrhundert dem Vordrängen der Chetiter erlag.

Über die Kulturzustände der Charrier und des Reichs von Mitani läßt sich bei dem fast völligen Fehlen von Denkmälern aus dem Zentrum des Reichs und der Unsicherheit der Datierung der ältesten Denkmäler aus Nordsyrien und dem Taurusgebiet zur Zeit noch wenig aussagen. Nur das ist sicher, daß diese Kultur diejenige Gestaltung trug, die wir als »chetitisch« zu bezeichnen pflegen; es ist aber, wie die Dinge jetzt liegen, sehr wohl möglich, daß sie richtiger charrisch zu benennen wäre, und daß sie sich von den Landen zu beiden Seiten des Euphrat und dem Taurusgebiet aus nach Norden und zu den Chetitern verbreitetet hat. Die ältesten auf uns gekommenen Zeugnisse dieser werdenden Kultur sind die ganz primitiven Reliefs auf Steinplatten vom südlichen Tor der kreisrunden Stadtmauer von Sendjirli (Sam'al) am Fuß des Amanos50, Darstellungen dämonischer Mischwesen, Menschenleib mit Vogelkopf und Flügeln, Löwen mit Vogel- oder Menschenkopf, Krieger und Jäger, zwei Männer im Gespräch miteinander, die mit der einen Hand einen Becher zum Munde führen, während die andere einen langen Stock hält. Diese tragen einen langen gegürteten Leibrock, der Jäger und der Krieger wie die Dämonen dagegen nur einen Schurz, auch hier mit einer Quaste am Gurt, sowie eine spitze Filzkappe; die Waffen sind Bogen mit spitzem Pfeil und am Gürtel ein Schwert. In ihrer grotesken Unbeholfenheit – an der sich nichts ändert, auch wenn wir ihre Entstellung durch lange Verwitterung noch so stark in Rechnung stellen – haben diese Denkmäler nur etwa in primitiven indianischen und in den ältesten sumerischen Skulpturen Parallelen; aber wie die Tracht ist auch die Haltung der Figuren, die Behandlung der Muskulatur und der Bewegung der schreitenden Tiere, kurz die ganze Art, die Außenwelt anzuschauen und [31] wiederzugeben, eine andere: wir schauen in die ersten Ansätze zu einem eigenen, bodenständigen Stil. Dem entspricht die Architektur, die Verkleidung der untersten Schichten der Lehmziegelmauer mit Steinplatten (Orthostaten), die beim Tor mit diesen Reliefs geschmückt sind. Dazu kommen hier weiter am Eingang gewaltige Laibungsblöcke in Gestalt eines Löwen, dessen mächtiger Kopf trotzig weit über die Mauer vorspringt. Trotz oder vielleicht gerade durch ihre ganz elementare Plumpheit sind sie doch nicht ohne Wirkung: mit dem riesigen Maul, den spitzen Zähnen und den glotzenden Augen schrecken sie den Fremden, der der Festung naht; sie sind die Urform, aus der schließlich in langer Entwicklung der Gorgokopf hervorgegangen ist51. Das alles sind Formen, die der babylonischen Kunst und Technik ganz fremd sind, wohl aber auf die Assyriens stark eingewirkt haben. Ihre Fortsetzung finden sie wie in den jüngeren Skulpturen aus Sendjirli52 und den Nachbargebieten, so in der Kunst des Chetiterreichs in Ujük und Boghazkiöi. Der enge Zusammenhang beider Gebiete tritt von Anfang an hervor: auch die Männer von Sendjirli sind bartlos und haben den Haarschopf zu einem langen, am Ende aufgerollten Zopf zusammengebunden, auch die Tracht ist die gleiche. Besonders überraschend ist, daß hier schon das Pferd vorkommt, und zwar nicht am Kriegswagen, sondern als Reittier, wie es sonst nur im Notfall verwendet wird: der Krieger, der in der Linken den abgeschlagenen Kopf eines Feindes trägt, sitzt auf dem Pferde. Auch auf religiösem Gebiet ist eine sichere Scheidung der Einzelgebiete noch nicht möglich; vor allem der Gewittergott Tešub ist den Charriern (Mitani) und Chetitern gemeinsam und findet sich als Teisbas auch bei den Alarodiern (Bd. I, 475 Anm.). So kann auch das Beil oder die Doppelaxt als sein Attribut und weiter die über das ganze Kulturgebiet verbreitete [32] und früh auch nach Babylonien eingedrungene Versinnbildlichung der göttlichen Macht dadurch, daß die Götter über Berggipfel einherschreiten und auf dem Rücken von Löwen, Panthern, Stieren stehn, sehr wohl zuerst bei den Charriern und im Taurusgebiet aufgekommen sein53.

Die besprochenen Denkmäler von Sendjirli mögen schon im Verlauf des 3. Jahrtausends entstanden sein. Ungefähr gleichzeitig scheinen die primitiven Reliefs auf Steinplatten aus dem Tell Ḥalâf am Chaboras zu sein, die durch Verwendung bei dem späteren Neubau eines Palastes erhalten sind. In der folgenden Zeit ist dann ein langsamer Aufstieg erkennbar, in dem die Eigenart dieser Kultur sich, trotz aller Entlehnungen aus Babylonien wie aus Ägypten, immer kräftiger ausprägt, bis sie in den Denkmälern des chetitischen Großreichs ihren Höhepunkt erreicht.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 28-33.
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