Geissler

[262] Geissler, Geisselbrüder, Kreuzbrüder, Büsser, Flagellantes, Flagellarii u.a. sind Benennungen einer im 13., 14. und 15. Jahrh. auf dem Gebiete des kirchlichen Busswesens auftretenden Erscheinung. Die altbritische und angelsächsische Kirche kannte als einzige Art des Busswerkes das Fasten: da dieses nicht in allen Fällen ausreichte, kamen als Ersatzmittel desselben Beten, Singen, Hersagen von Psalmen, Kniebeugen, Geldspenden zu kirchlichen oder wohlthätigen Zwecken und die Geisselung auf. Die letztere erscheint zuerst in einem Bussbuche des 8. Jahrh., in Nachahmung der Geisselungen Christi und der Apostel. Sie blieb lange nur auf Klöster beschränkt und erlangte hier eine[262] systematische Ausbildung, sodass die Zahl der Schläge nach einer festen Taxe berechnet wurde. Besonders der Kardinal Damiani, gest. 1072, wurde nicht müde, die Geisselung anzuempfehlen und brachte es so weit, dass dieselbe nicht bloss in den Klöstern eine sehr ausgedehnte Anwendung fand, sondern auch in die Privathäuser drang. Die Veräusserlichung des Bussbegriffes, die Vermehrung des Ketzertums und der Kampf der Kirche gegen dasselbe, die zunehmende Verehrung der Wanderprediger, das Aufkommen der geistlichen Spiele, der Gesang freier religiöser Lieder u.a., drängte zu besonderen Ausbrüchen des gesteigerten religiösen Volksgefühls. Von der Wirkung des Antonius von Padua, gest. 1231, heisst es in der Lebensbeschreibung: »Damals fingen die Menschen zuerst an, scharenweise sich geisselnd und geistliche Lieder singend in Prozession zu gehen. Beglaubigt ist, dass im Jahr 1260 zu Perugia, infolge langer und furchtbarer Kämpfe, sich eine Menge Volkes zu reuiger Geisselbusse verband. Mit entblösstem Oberkörper wallten Edle und Unedle, Greise, Männer und Jünglinge, ja selbst Kinder paarweise in feierlichem Autzuge durch die Stadt und schlugen sich mit ledernen Geisselriemen über die Schulter, dass das Blut herabfloss. Dann ergossen sie sich hinaus über das Weichbild der Stadt, und immer neue Scharen schlossen sich an, wie von Ansteckung ergriffen, und so zogen die Büsser weiter zu Hunderten, zu Tausenden, ja zu Zehntausenden von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, angeführt von Priestern mit Kreuzen und Fahnen, und warfen sich vor den Altären der Kirchen nieder. Alle Musik, aller Gesang verstummte vor ihren Bussliedern. Reue und Bedürfnis der Versöhnung erwachte in allen Gemütern; jeder beeilte sich zu beichten und gethanes Unrecht wieder gut zu machen. Wucherer und Räuber stellten das unrechtmässig gewonnene Gut zurück, Feinde söhnten sich aus, Gefangene wurden entlassen, Vertriebene wieder aufgenommen, reiche Almosen gespendet. Bis nach Rom hin wanderte das Geisslerheer und aufwärts durch die Lombardei und Piemont bis nach der Provence; selbst der Winter vermochte ihren Eifer nicht zu dämpfen.«

Das Jahr darauf, 1261, sah den ersten Geisslerzug in Deutschland und zwar in den österreichischen Ländern, Bayern, Polen, Böhmen, Mähren und Ungarn. In Italien wiederholte sich die Erscheinung im Jahr 1334. Die grösste Bewegung dieser Art geschah jedoch unter dem Eindrucke des schwarzen Todes, der, von Ostasien herkommend, unglaubliche Verwüstungen anrichtete, (siehe den Artikel Volkskrankheiten). Nach Deutschland kam diese Pest im Jahr 1348; ihr Eindruck wurde vermehrt durch das auf dem verstorbenen Ludwig dem Bayer und seinen Freunden und Anhängern lastende Interdikt. Da sammelten sich im Jahr 1349 an verschiedenen Orten neue Geisslerscharen, die von sehr verschiedenen Orten sich mehrend und sich wieder zerteilend, das Land von den Alpen bis nach. Dänemark und hinüber nach England durchzogen; auch Frauen und Kinder waren dabei. Die ausführlichste Nachricht darüber findet man in Closeners Strassburger Chronik, die im Jahr 1362 vollendet wurde.

Wer in die Brüderschaft eintreten wollte, musste zuerst erklären, dass er gebeichtet, aufrichtig bereut, seinen Feinden vergeben und die Einwilligung seiner Ehefrau zur Geisselfahrt erhalten habe; dann musste er 11 Schillinge und 4 Pfennige aufweissen, um durch 30 bis 34 Tage (zum Andenken an Christi[263] Lebensjahre) sich mit täglich 4 Pfennigen erhalten zu können; sodann sollte er die Weise der Geissler halten und den Meistern der Brüderschaft Gehorsam angeloben. Mit Frauen zu verkehren war nicht gestattet. In der Nähe einer bewohnten Ortschaft ordnete sich der Zug, voran die gewundenen Kerzen, Kreuze, Fahnen, dann die Büsser paarweise, in Mäntel und Hüte gekleidet mit daraufgehefteten roten Kreuzen. Mehrere Vorsänger stimmten dann einen Leis an (siehe diesen Artikel), den die ganze Schar nachsang, während alle Glocken des Ortes zum Empfange geläutet wurden. Der gebräuchlichste Leis lautete:


Nu ist die betevart sô hêr:

Crist reit selber gên Jerusalêm,

er füerte eine kriuze in siner hant;

nu helfe uns der Heilant

Nu ist die betevart sô guot:

hilf uns, herre, durch dîn heiigesbluot,

daz du an dem kriuze vergossen hast,

und uns in dem eilende gelôsssen hast

Nu ist die strôsse alsô breit,

die uns zuo unserre frouwen treit,

in unserre lieben frouwen lant;

nu helfe uns der heilant

Wir sullen die buosse an uns nemen,

daz wir gote deste bas qezemen

aldort in sînes vater rîch;

des biten wir dich alle gelîch;

so biten wir den heiligen Crist,

der alle der weite gewaltig ist.


In der Kirche, wohin sie zogen, knieten sie nieder und sangen:


Jhêsus der wart gelabet mit gallen,

des sullen wir an ein kriuze vallen.


Mit diesen Worten warfen sie sich mit kreuzweis ausgebreiteten Armen zur Erde, und verharrten so, bis der Vorsänger anhob:


Nu hebent ûf die inwern hende,

daz Got dis grôsse sterben wende,


worauf sie sich wieder erhoben. Dies geschah dreimal. Dann traten Bürger der Stadt hinzu und luden die Brüder zum Imbiss zu sich ein. Zum Geisseln aber oder zum Büssen, welches vor- und nachmittags geschah, begaben sie sich wieder in Prozession auf einen freien Platz, etwa den Kirchhof, schlössen einen Kreis, legten in die Mitte sämtliche Kleidungsstücke bis auf die Hosen, knüpften einen Schurz um und legten sich in einem weiten Kreise so nieder, dass die Lage oder Gebärde die Hauptsünde des einzelnen anzeigte, der Ehebrecher auf den Bauch, der Mörder auf den Rücken. Der Meister schritt dann über jeden weg, rührte ihn mit der Geissel und sprach:


Stant ûf durch der reinen martel êre

und hüete dich vor den sünden mêre


Jeder Berührte schritt dem Meister nach und that wie er. Nachdem alle aufgestanden waren, stellten sie sich wieder zu einem Kreis zusammen, gingen paarweise um den Kreis, den Rücken mit Geisseln blutig schlagend, von denen drei Riemen in Knoten mit vier eisernen Stacheln ausliefen, und sangen während der Geisselung einen neuen Leis.

Die Geisselung wiederholte sich dreimal. Nachdem die Eingangs-Ceremonien wiederholt waren, legten die Geissler ihre Kleider an, achtbare Leute unter den Zuschauern sammelten eine Beisteuer zu Kerzen und Fahnen für die Brüderschaft, und wenn dies gethan, trat einer, der ein Laie war und lesen konnte, auf eine Erhöhung und verlas einen langen Brief, der angeblich von Christus selbst auf eine Marmortafel geschrieben, durch einen Engel herabgebracht und auf den Altar St. Peters zu Jerusalem niedergelegt worden sein sollte. Er enthielt die Aufforderung zur Geisselfahrt. In feierlichem Zuge, unter Glockengeläute, kehrten dann die Geissler in die Stadt zurück, verrichteten in[264] der Kirche ihre Andacht und gingen auseinander. Sie durften nicht über einen Tag und eine Nacht an einem Orte verweilen; beim Fortziehen aus einem Orte sangen sie:


O herre vater, Jhêsu Crist,

wan du allein ein herre bist,

der uns die sünde mac vergeben,

nu gevriste uns unser leben,

daz wir beweinen dînen tôt.

wir klagen dir, herre, dl unser nôt.


Alle Lieder waren erst für diese Geisselfahrt von einem unbekannten Verfasser gedichtet worden.

So ausserordentlich die Teilnahme an dieser seltsamen Erscheinung war, so schnell ging sie vorbei; nach einem halben Jahre verbot man in Strassburg und anderwärts, zum Teil durch die Geistlichkeit angeregt, die öffentliche Geisselung. Dazu kam, dass die französischen Greisselfahrten, wofür die deutschen Leise übersetzt worden waren, von selten des Königs und der Universität verboten wurden und der Papst noch im Herbst des Jahres 1349 eine Bulle gegen die Geissler erliess, worin er ihnen zur Last legte, dass sie eigenmächtig handelnd, die Schlüsselgewalt und die disziplinarische Ordnung der Kirche missachten, und den Bischöfen befahl, sie zu unterdrücken.

In Italien, Frankreich und Spanien trat die Erscheinung der Geissler vom Jahre 1398 an in anderer Form auf; gehüllt in lange, weisse, leinene Gewänder (daher Bianchi, Albi, Albati genannt), welche auch Kopf und Gesicht verdeckten und nur zwei Öffnungen für die Augen freiliessen, wallten sie in neuntägiger Bussfahrt in grossen Haufen unter Absingung des Stabat mater durch die Länder und Städte; auch diese Erscheinung wurde bald unterdrückt, und die Geisselbusse nur noch im Geheimen von den nie ganz zerstörten Brüderschaften fortgesetzt. Im 15. Jahrhundert wurden viele geheime Anhänger derselben in Deutschland von der Inquisition auf den Scheiterhaufen gebracht. Nach Zacher in Ersch. u. Gruber.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 262-265.
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