Boëthius

[591] Boëthius, Anicius Manlius Torquatus Severinus, Zeitgenosse des christl. Cassiodor, wurde zwischen 470–75 geb., wurde Senator, 510 Consul und war ein Vertrauter des Königs Theodorich, so lange beide Verschmelzung und harmonisches Zusammenwirken römischer Bildung und gothischer Thatkraft für möglich hielten. Als die Unmöglichkeit beiden klar wurde und die Italiener ihre Blicke nach Byzanz richteten, von wo sie allein Befreiung von der Gothenherrschaft erwarten konnten, wurde er eingekerkert, 523 wahrscheinlich freigelassen, 524 oder 526 aber dennoch hingerichtet. – Obwohl thätiger Geschäftsmann, wagte er sich doch an das riesenhafte Unternehmen, alle Hauptwerke des griech. Alterthums für Unterricht und Selbstbelehrung zu übersetzen und zu erläutern; durch Bearbeitungen des Euklid, Nikomach, Archimed, Porphyrius u. A., besonders des Aristoteles, sowie durch kleinere Schriften, von denen manche erst in neuester Zeit vom Cardinal Angelo Mai entdeckt wurden, erwarb er sich um die Bildung des Mittelalters so große Verdienste, daß dieses ihn für den eigentlichen Erfinder des Triviums und Quadriviums hielt. Unsterblich aber ist er durch seine 5 Bücher enthaltende Schrift: »de consolatione philosophiae«, welche Alfred d. G. (s. d. A.) ins Englische, [591] Notker im 11. Jahrh. ins Deutsche übersetzte und zuletzt Obbarius in Jena 1843 herausgab. B. schrieb dieselbe im Kerker, nicht ohne seinen philosoph. Musterstaat der Gothenherrschaft entgegenzusetzen und stellte darin Betrachtungen über die Unabhängigkeit des Glücks von irdischen Gütern, über Zufall, menschliche Freiheit und göttliche Vorsehung an. Der Umstand, daß er nur philosophische und keine christlichen Motive vorbringt und von den Glaubensspaltungen seiner Zeit nichts merken läßt, stellt die Vermuthung nahe, daß B. als Heide gestorben sei.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 1, S. 591-592.
Lizenz:
Faksimiles:
591 | 592
Kategorien: