Boëthĭus

[135] Boëthĭus (richtiger als Boëtius), Anicius Manlius Torquatus Severinus, röm. Staatsmann und Philosoph, geb. zwischen 470 und 475 n. Chr. in Rom aus hochangesehener Familie, gest. 525 in Pavia, widmete sich, wie berichtet wird, vom 10.–28. Lebensjahr in Athen philosophischen und mathematischen Studien, wurde 510 zum Konsul ernannt, genoß mehrere Jahre hindurch das Vertrauen des Ostgotenkönigs Theoderich, der damals in Italien herrschte, wurde jedoch als Mitglied des Senats ungerechterweise auf Hochverrat angeklagt, auf Befehl Theoderichs zu Pavia eingekerkert und nach langer und harter Gefangenschaft ungehört hingerichtet, welche despotische Gewalttat Theoderich später schmerzlich bereut haben soll. Das gleiche Schicksal erlitt mit ihm sein Schwiegervater, der Senator Symmachus. Im Kerker hatte B. sein berühmtes, in dialogische Form eingekleidetes »Trostbuch der Philosophie« (»De consolatione philosophiae«, in 5 Büchern) verfaßt, das sich an die alte Philosophie, namentlich die platonische und stoische, anschließt, so daß die Angabe, er sei Christ gewesen, sehr zweifelhaft ist. Das kleine, in einer reinen und edeln Sprache abgefaßte Buch, in dem mit der Prosa Poesie abwechselt, stand das ganze Mittelalter hindurch im höchsten Ansehen. B. unterhält sich darin mit der Philosophie, die ihn belehrt daß alles irdische Glück wandelbar sei, daß der Weise die wahre Ruhe und Sicherheit nur in der Tugend finde, sowie daß nach Gottes Absicht alles Mißgeschick dem Menschen doch zum Heile gereiche. Seine übrigen Schriften bestehen in Übersetzungen und Erläuterungen älterer Werke mathematischen und philosophischen Inhalts, z. B. der »Geometrie« des Eukleides, namentlich aber der logischen Schriften des Aristoteles (der »Categoriae«, der »Analytica«, der »Elenchi sophistici«, »Hermeneia« etc.), wodurch er großen Einfluß auf die Scholastik gewann; ferner in der Schrift »De musica«, in 5 Büchern, und mehreren Lehrbüchern logischen InhaltsDe syllogismo categorico«, »De syllogismo hypothetico« u. a.), die im Mittelalter viel gebraucht wurden. Die Echtheit der ihm beigelegten christlich-theologischen Traktate ist wiederholt, so von Nitzsch (»Das System des B. und die ihm zugeschriebenen theologischen Schriften«, Berl. 1860), angefochten worden und steht noch nicht fest. Gesamtausgaben der Werke des B. erschienen zu Venedig 1491–92, 2 Bde.; korrekter zu Basel 1546 und 1570; zuletzt in Mignes »Patrologia«, Bd. 63 und 64 (Par. 1847). Von den vielen Ausgaben der[135] "Consolatio" sind außer der ersten (Nürnb. 1473) die von Obbarius (Jena 1843) und Peiper (Leipz. 1871, mit den theologischen Schriften) anzuführen. Übersetzt wurde die Schrift in viele Sprachen. Eine angelsächsische Übersetzung, angeblich von Alfred d. Gr., wurde zuletzt von Sedgefield (Lond. 1899), eine altdeutsche (aus dem Anfang des 11. Jahrh.) von Graff (Berl. 1837), dann von Hattemer (»Denkmale des Mittelalters«, Bd. 3, St. Gallen 1847), eine griechische des Maximus Planudes von Bétant (Genf 1871) herausgegeben. Neuere deutsche Übersetzungen lieferten Wortberg (Greifsw. 1826), Weingärtner (Linz 1827) und Scheven (in Reclams Universal-Bibliothek). Die Schrift »De musica« wurde mit mathematischen Schriften (»De arithmetica« und »Geometria«) zusammen von Friedlein (Leipz. 1867), in deutscher Übersetzung allein von O. Paul (das. 1872) herausgegeben. Von den Arbeiten zu Aristoteles veröffentlichte Meiser eine kritische Übersetzung der doppelten Kommentare zur »Hermeneia« (Leipz. 1877–80, 2 Bde.). Vgl. Bergstedt, De vita et scriptis Boethii (Upsala 1842); Hildebrand, B. und seine Stellung zum Christentum (Regensb. 1885); Stewart, B., an essay (Edinb. 1891).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1905, S. 135-136.
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