Anmuthiger Blumenkranz aus dem Garten der Gemeinde Gottes,

[199] ans Licht gegeben im Jahre 1712.


Es mögten sich nit wenige verwundern, daß man bei der Menge alter und neuer Gesangbücher doch wieder ein neues Liederbuch vor den Tag bringt, dazu zu einer Zeit, da man in der ganzen Welt nichts als Klag, Angst und Gefahr vorsiehet, und da die rechtschaffenen Sänger so rar, und die Harmonie unter denen, so den Namen der Freunde Gottes tragen, so gar schlecht und gering ist, daß Zion mehr Ursach findet, über sich und ihre Kinder zu weinen, als sie Lust gewinnen sollte, die Harfe vor dem Herrn zu rühren. Der Anlaß dieser neuen Sammlung war das Verlangen vieler Freunde, die unter den vielen Drangsalen den Muth nicht sinken lassen, vielmehr die innern Seelenkräfte durch vielerlei Anfechtungen an dem Kreutze Jesu ausspannen, und also vom Geiste der Weisheit in lebendiger Wahrheit gestimmet werden. Diese allein werden wohl die allerangenehmsten Sänger und Musikanten Gottes seyn; besonders da alle die äusseren Gerichte und die inneren Anfechtungen nichts anders als unfehlbare Vorboten sind, daß sich unsere Erlösung nahe. Wer wollte es einem treuen Kinde Gottes verdenken, wenn es mitten unter den Drangsalen sein Herz dem freudenreichen Geiste der Gnaden, als ein Werkzeug des Lobes Gottes darbietet, und den Herrn in seinem Herzen spiegeln läßt, so daß auch der Leib und die äusseren Organe zu einem andächtigen Gesang getrieben werden. Der Geist Gottes wechselt Seufzen und Gebet mit einem stärkenden Gesange.

Man hat also allen Fleiß angewendet, den Kern der Besten zu finden, ob man es allen recht gemacht habe, daran zweifelt man, worauf man[200] daher auch nicht hat sehen können. Ja man kann nicht in Abrede seyn, daß hier eine mehrere Freyheit gebraucht worden, als man bishero bei dergleichen Gesangbüchern mögte gewohnt seyn, und daß man der Regel nicht genau nachgekommen sey, die gern haben will, daß man alles beim Alten lasse. Man hat kein Bedenken getragen, hie und da in den Gesängen zu ändern, je nachdem es sich der eignen Seele durch die geheime Wirkung der Gnade Gottes näher anfügte oder sonst dem Vorbild des heilsamen Wortes gemässer wurde, nicht aus Verachtung der Singer, darum man auch nicht hoffet, daß irgend ein noch lebender Verfasser eines hierin befindlichen Liedes dieses übel nehmen werde, da man doch keines keinem zuschreibt, sondern der allgemeinen Erbauung, die der Hauptgrund aller wahren Freiheit seyn soll. So sind dann auch einige Lieder wieder in ihre erste Gestalt hergestellt worden, da solche von andern durch Zusätze und Veränderung eben nicht allezeit verbessert worden. Gleichwie man nun gedachter massen Freyheit genommen, zu thun, was man gethan, so lässet man auch Freiheit, darüber mit Bescheidenheit zu urtheilen. Sollte aber jemand die verschiedenen Ausdrücke und ungewohnten Redensarten dieser Lieder nach den Lehrsätzen irgend einer Religion prüfen, und die unerforschlichen Wege Gottes mit dem kanonisirten Maaßstabe der sogenannten Orthodoxie abcirkeln wollen, der wird diese Ehle an beiden Enden zu kurz finden. Viele werden auch die hierinn befindlichen Lieder nicht verstehen, viele können ihnen nicht anstehen. Der in der Welt nur Vergnügen oder nur Melancholie, oder die Zeit zu vertreiben suchet, und darum diese Liedlein herlallen wollte, der wird Zeugniß darin finden, die seine eitle Entheiligung bestrafen. So hat man auch nicht die Meinung, daß man durch Ausgebung so vieler Lieder die Weise einiger Werkheiligen billigen wolle, die entweder für sich allein, oder in Gesellschaft mit andern, so viele Lieder nach einander daher singen, und meinen Gott damit einen Dienst zu thun, da doch die äussere Stimme nur ein Ausdruck der inneren Begierde und Andacht, und dienet mehr zum Dienste dessen,[201] der selbst anbetet, als eigentlich zum Dienste Gottes. Manche Seele sitzet oft von aussen unter den Sängern, da sie der Geist von innen ins Klagehaus führet, äussere menschliche Satzungen gehen oft ganz gegen die inneren Wirkungen des Geistes; dagegen geschieht gar oft, daß die allergeheimsten Freunde Gottes inwendig von dem Geiste so getrieben werden, daß ihre Aeusserung ein Gesang. Das göttliche Wesen ist kein tönend Erz, noch eine klingende Schelle, aber ein solches Singen ist kräftig, nicht nur sich selbst in heiliger Andacht zu erhalten, sondern auch andere, die es hören, zur wahren Andacht zu erwecken. Ja prüfet es und erfahret es, und der Geist wird zeugen, daß Geist Wahrheit sey!


Quelle:
Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Band 3, Stuttgart u.a. 1979, S. 199-202.
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