Höhere Gewalt

[100] Höhere Gewalt. Aus dem Streit der Meinungen über Sinn und Tragweite des Begriffs haben sich zwei Sätze zu allgemeiner Anerkennung durchgerungen, nämlich: 1. daß unter den Begriff der höheren Gewalt nur fallen von außen kommende Ereignisse, die nach menschlicher Einsicht nicht vorauszusehen und deren Eintritt und Folgen durch Vorkehrungen, welche zu dem zu erreichenden Erfolg in vernünftigem Verhältnis stehen, nicht abgewendet werden können; und 2. daß es demgemäß eine allgemein gültige Formel für das, was höhere Gewalt sei, nicht gibt, daß vielmehr je nach der Verschiedenheit des einzelnen Falles die Entscheidung verschieden ausfallen könne.

Es liegt auf der Hand, daß die praktische Verwertbarkeit des ersten Satzes durch den zweiten erheblich eingeschränkt wird; ferner geht offensichtlich die Tendenz der Rechtsprechung dahin, das Anwendungsgebiet der »höheren Gewalt« möglichst eng zu begrenzen. Da nach obiger Begriffsbestimmung nicht einmal Naturereignisse stets und unbedingt als »höhere Gewalt« anzusehen sind, so wird die Frage doppelt Zweifelhaft, wenn es sich um – sich oder andre schädigende – Handlungen dritter (betriebsfremder) Personen handelt. Zum[100] Beispiel wurde zwar ein orkanartiger Sturm, der einen Eisenbahnzusammenstoß verursachte, als »höhere Gewalt« anerkannt, nicht aber der plötzliche Eintritt eines dichten Nebels; ferner zwar ein Sturz infolge plötzlicher Ohnmacht, nicht aber das ungewöhnliche Anstürmen des der Beförderung harrenden Publikums auf einen einfahrenden Zug; ferner zwar ein Achsenbruch, wenn eine ruchlose Hand einen Steinblock auf die Schienen legte, nicht aber, wenn der Grund des Bruchs die (unbekannte) mangelhafte Beschaffenheit der Achte oder Frost war u.s.w. – Eine praktisch wichtige Frage ist, ob ein Streik höhere Gewalt darstelle; auch sie läßt sich allgemein nicht beantworten, doch wird sie meist zu verneinen sein, wenn nicht etwa geradezu unsinnige Forderungen, die den sicheren Ruin des Arbeitgebers bedeuten würden, durch den Streik erzwungen werden sollen. Aussperrungen, sei es in einem einzelnen Betrieb oder einer ganzen Branche, etwa auf Grund Verbandsbeschlusses, können für den Arbeitgeber nicht als höhere Gewalt gelten. – Die Frage, ob der Generalunternehmer (z.B. der bauleitende Architekt) sich unter Berufung auf höhere Gewalt von der Einhaltung seiner Fristen um deswillen befreien könne, weil im Betrieb eines Unterakkordanten (z.B. im Steinhauer- oder Zimmermannsgewerbe) gestreikt wird, könnte nur bejaht werden, wenn der Streik nicht vorauszusehen war und seine Folgen durch kein Mittel und keine Aufwendungen, die zur Größe des Objekts (also nach obigem Beispiel: zum Wert des Baus) noch irgend in einem vernünftigen Verhältnis stehen, beseitigt werden können. Will also der Unternehmer sicher gehen, so muß er in seinen Vertrag die Streikklausel aufnehmen oder zum minderten die Fristen zur Fertigstellung der Arbeiten genügend groß bemessen. Letzteres hätte auch die weitere, sehr wünschenswerte Folge, daß unzählige Vertragsstrafforderungen und -prozesse wegen Fristüberschreitungen von vornherein ausgeschlossen wären.

Liegt nun im einzelnen Fall wirklich höhere Gewalt vor, so wird der Verpflichtete im allgemeinen von der Verpflichtung zur Leistung (gegebenenfalls zur Leistung innerhalb der ihm gesetzten Frist) frei, vgl. § 275 B.G.B. und die in den folgenden Paragraphen gegebenen näheren Detailbestimmungen; liegt wirklich höhere Gewalt vor, so werden der Gastwirt (§ 701 B.G.B.), der Tierhalter (§ 833 B.G.B.) und der Bauwerksbesitzer (§ 836 B.G.B.) von ihrer Haftpflicht (s.d.) befreit; so haftet die Eisenbahn für den Schaden, der durch Verlust oder Beschädigung des Frachtguts von der Annahme bis zur Ablieferung entsteht, nicht (§ 456 H.G.B.); so darf dieselbe die Uebernahme von Gütern verweigern (§ 453 H.G.B. und Art. 5 des Berner internationalen Uebereinkommens vom 14. Oktober 1890, Reichsgesetzblatt S. 733 ff.); so haftet sie nicht für einen bei ihrem Betrieb entstandenen Schaden an Leib und Leben (Reichshaftpflichtgesetz, § 1) und für Sachschaden (z.B. württembergisches Gesetz, betreffend die Haftung für Sachschaden beim Eisenbahnbetrieb, vom 4. Juni 1903); so ist die Verbindlichkeit der Postverwaltung für Verlust oder Beschädigung von Postsendungen ausgeschlossen (§ 6 des Postgesetzes von 1871, Reichsgesetzblatt, S. 349), und andre allgemein weniger bedeutsame Fälle mehr.


Literatur: Von zahllosen Entscheidungen des Reichsgerichts und gelegentlichen Bemerkungen in Werken verschiedensten Inhalts abgesehen, mögen hervorgehoben werden: Eger, Kommentar z. Reichshaftpflichtgesetz, § 1; Staub, Kommentar z. Handelsgesetzbuch, 436.

Sick.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 5 Stuttgart, Leipzig 1907., S. 100-101.
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