Zeitzünder, mechanische

[862] Zeitzünder, mechanische, für Artilleriegeschosse sollen die bisher gebräuchlichen Brennzünder ersetzen.

Die Wirkung der Brennzünder als Zeitzünder beruht auf dem möglichst gleichmäßigen Abbrennen eines Pulversatzes. Diese Gleichmäßigkeit wird aber durch längere Lagerung und durch den wechselnden Luftdruck bei ihrer Verwendung in Frage gestellt. Die Folge ist große Längenstreuung der Sprengpunkte, die sich bei den heute erstrebten großen Schußweiten besonders nachteilig geltend macht. Ferner lassen sich die den großen Schußweiten entsprechenden Brennzeiten beim Brennzünder nur durch große Länge des Pulversatzes erreichen, dessen Unterbringung die Größe des Zünders in ein Mißverhältnis zur Größe des Geschosses setzt. Beide Uebelstände sollen durch den mechanischen Zeitzünder eingeschränkt werden. Nach den Grundlagen für den Aufbau ihres Triebwerks lassen sich drei Hauptgruppen unterscheiden: Zünder mit Antrieb durch Schwerkraft oder Luftwiderstand, Zünder mit Flüssigkeitsbetrieb und Zünder mit Uhrwerk. Bei der ersten Art soll die Schwerkraft bezw. der Luftwiderstand dazu dienen, den treibenden Maschinenteil A des Zünders von der Achsdrehung des Geschosses völlig oder bedingt unabhängig zu machen und ihn dadurch zur Betätigung des Mechanismus befähigen. Zu dem Zweck wird A gebremst. Die Bremsung wird bei einigen Entwürfen durch die Schwerkraft bezw. durch das Beharrungsvermögen des in der Regel nach Art eines Pendels – oder auch eines Kreisels – ausgebildeten Teils A bewirkt. Er schwingt um eine Welle, deren Mittellinie mit der Drehachse des Geschosses zusammenfällt und die im Zünder mit möglichst geringer Reibung gelagert ist. Bei andern Zündern hat man als bremsende Kraft den Luftwiderstand bezw. Luftdruck verwertet. Er nötigt entweder die vor der Spitze des Geschosses angebrachten und mit A verbundenen Windflügel zum Stillstand oder betätigt ein im Innern des Geschoßkopfes gelagertes Luftrad (Turbine) so, daß es in demselben Sinne, aber mit geringerer Winkelgeschwindigkeit als das Geschoß, sich um dessen Achse dreht und auch A, mit dem das Rad ebenfalls verbunden ist, zu der gleichen Bewegung veranlaßt. Ist nun A als Schraube, Schnecke, Mutter, Zahnrad oder dergl. ausgebildet und an einen ihn ergänzenden Maschinenteil B, der die Achsdrehung des Geschosses mitmacht, angeschlossen, so kann das Zusammenwirken von A und B offenbar zu einer solchen Verschiebung der andern arbeitenden Zünderteile verwertet werden, daß innerhalb einer gewissen Frist die Explosion des Zündsatzes und der Sprengladung herbeigeführt wird. Sollen diese Zünder rechtzeitig tätig werden, so muß vor allem das Kraft- und Zeitmaß der Einwirkung des treibenden Teils A auf den getriebenen Teil B stets in einem und demselben unveränderlichen Verhältnis zur Winkel- bezw. zur fortschreitenden Geschwindigkeit des Geschosses stehen. Da aber A durch die Reibungs- und Trägheitswiderstände der mit dem Geschoß sich drehenden Zünderteile ebenfalls beeinflußt wird, und zwar in wechselndem Maße,[862] so wird das regelmäßige Arbeiten des Werks beeinträchtigt. Besonders gilt das für die mit Windfahnen oder Lufträdern arbeitenden Zünder. Nicht nur, daß jeder Seitenwind störend einwirkt, sondern auch der Umstand, ob die Flugbahn mit dem Winde oder gegen ihn liegt, bedingt beträchtliche Zeitunterschiede im Wirksamwerden der Zünder. – In der zweiten Gruppe unterscheidet man zwei Arten, je nachdem die arbeitende Flüssigkeit aus dem Zünder ausströmt oder nur ihren Ort im Zünder wechselt. Beides wird von der Fliehkraft, also von der Winkelgeschwindigkeit des Geschosses hervorgerufen. Diese ist so gut wie unveränderlich. Darin liegt ein großer Vorzug. Anderseits muß die Arbeitsflüssigkeit auch während längerer Lagerung in gleicher Menge und gleichem Aggregatzustand erhalten werden. Das ist schwierig. Aber auch Spannungen, die bei warmer Witterung in der Flüssigkeit eintreten, schließen völlig gleichmäßige Wirkung aus. Ferner ist bei den Zündern, die durch das Ausströmen der Flüssigkeit betätigt werden, die dadurch verursachte Verringerung des Geschoßgewichts und bei beiden Arten die allmähliche Verlegung des Geschoßschwerpunkts störend. Die Einrichtung dieser Zünder ist derart, daß die abfließende Flüssigkeit nach einer bestimmten Flugzeit des Geschosses unmittelbar oder mittelbar eine Sperre freigibt, die bis dahin den Schlagbolzen festhielt. Das Abfließen der Flüssigkeit kann durch Einstellen der Durchflußöffnungen geregelt werden. Das Stellen der mit ausströmender Flüssigkeit arbeitenden Zünder geschieht mitunter in der Weise, daß so viel Flüssigkeit aus dem Zünder entfernt wird, bis die Ausflußdauer des verbleibenden Restes der verlangten Betätigungsfrist entspricht. Solche Zünder lassen sich nachträglich nicht mehr auf eine größere Entfernung umstellen; darin liegt ein wesentlicher Mangel. Es ist aus dem Gesagten ersichtlich, daß die Zünder mit Flüssigkeitsbetrieb, obwohl ihnen im Vergleich mit denen der ersten Gruppe manche Vorteile eigen sind, doch in noch höherem Grade als jene erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden haben, um sie brauchbar zu gestalten. – Die dritte Gruppe (Uhrzünder) arbeitet mit einem vollkommenen und zuverlässigen Zeitmesser. Zur Verwendung im Geschoß eignet sich nur ein Uhrwerk mit Federantrieb von beträchtlicher Widerstandsfähigkeit bei geringem Rauminhalt und Gewicht. Die Erschütterungen und teilweise heftigen Stöße bei der Versendung, auf den Märschen und beim Schuß sollen weder seine Haltbarkeit noch die Genauigkeit seines Ganges merklich beeinträchtigen. Beim schußfertigen Zünder ist das Uhrwerk aufgezogen und durch eine Sperrung gesichert. Bei Abgabe des Schusses löst der Stoß die Sperrung aus, das Uhrwerk setzt sich in Gang und dreht eine Stellscheibe in umgekehrter Richtung des Uhrzeigers. Gleichzeitig legt sich die Nase einer Auslösewelle an den Zylindermantel der Stellscheibe und schleift an ihm unter Federdruck. An einer bestimmten Stelle des Zylindermantels ist ein Einfallschlitz angeordnet. Wenn sich die Stellscheibe so weit gedreht hat, daß die Nase in diesen Schlitz einspringt, dreht sich die Auslösewelle unter der Kraft einer Sender. Dadurch wird die Schlagsender freigegeben, sie schnellt vor und flicht mit einem Schlagstift die Zündung an. Um den Zünder für die gewünschte Flugzeit einstellen zu können, muß der Abstand zwischen dem Einfallschlitz des Zylindermantels der Stellscheibe und der Anfangsstellung der Nase regelbar sein. Die Stellscheibe muß deshalb mit der Achse des Uhrwerks nicht starr, sondern nur durch Reibung verbunden sein. Das Einstellen erfolgt durch Drehen des Zünderdeckels. Er ist mit der Stellscheibe durch eine Haltesender gekuppelt, die bei Abgang des Schusses durch die Fliehkraft nach außen gebogen wird, so daß Stellscheibe und Uhrwerk sich frei drehen können. Der Zünderdeckel wird beim Schuß durch Stauchung auf den Körper des Zünders festgeklemmt. Den hier geschilderten Aufbau zeigt der Zünder von Fried. Krupp, der aus dem Zünder des Uhrmachers Karl Bäker hervorgegangen ist und zurzeit allein praktische Erfolge aufzuweisen hat. Eigenartig ist die Unruhe des Werks, die je nach dem Umsetzungsverhältnis der Räder 60–300 Schwingungen in der Sekunde macht, so daß die Zeit der Zündung auf kleine Bruchteile einer Sekunde genau festgelegt werden kann (Fig. 13). Der Schutz der Unruhe geschieht durch eine Stützsender für den Zapfen der Unruhachse, ferner durch Stifte, welche ihre plötzliche Drehung verhindern sollen und dadurch, daß sich die ein wenig federnden Arme beim Schuß nach rückwärts durchbiegen und sich gegen eine Platte legen. – Die Uhrzünder sind den andern Gattungen mechanischer Zeitzünder in allen wesentlichen Beziehungen überlegen. Auch den bis jetzt angewendeten Brennzündern werden sie sich, besonders bei Geschützen mit langen [863] Flugzeiten und großen Flughöhen der Geschosse, überlegen zeigen, sobald es möglich ist, sie fabrikmäßig mit vollendeter Genauigkeit herzustellen.


Literatur: [1] Generalmajor z. D.R. Wille, Mechanische Zeitzünder, Berlin 1911, Verlag von R. Eisenschmidt. – [2] Mitteilungen über Gegenstände des Artillerie- und Geniewesens 1889, S. 11 u. 55; 1894, S. 401; 1906, S. 38. – [3] Artilleristische Monatshefte 1909, Nr. 25, S. 17–38; Nr. 26, S. 94–112; Nr. 27, S. 193–212.

Wille.

Fig. 1., Fig. 2., Fig. 3.
Fig. 1., Fig. 2., Fig. 3.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 9 Stuttgart, Leipzig 1914., S. 862-864.
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