Anthropomorphismus

[571] Anthropomorphismus (griech.), die Übertragung menschlicher Eigenschaften auf Nichtmenschliches; eine Erscheinung, deren Auftreten darin seine Erklärung findet, daß durch die Auffassung des seiner innern Natur nach uns unbekannten Nichtmenschlichen nach dem Vorbilde des menschlichen Wesens das erstere uns begreiflich wird. Als die roheste Form des A. kann man die Personifikation lebloser Naturgegenstände oder Naturerscheinungen betrachten, wie sie heim Kind und in den Mythologien vorkommt. In abgeblaßter Form ist diese Anschauungsweise sogar noch in dem gewöhnlichen Begriff der Kraft (z. B. der Anziehungskraft der Erde) enthalten, ja einige Philosophen behaupten, daß wir auch in dem Begriff eines Dinges im Grunde nur ein Abbild unsers eignen Ich denken, das letztere gewissermaßen nach außen projizieren. Die Stammbedeutungen zahlreicher Worte (hauptsächlich der Verba) lassen in der Tat den anthropomorphistischen Ursprung vieler jetzt ganz abstrakter Begriffe deutlich erkennen. Besonders beachtenswert ist jedoch der A. in den religiösen Vorstellungen. In Ermangelung direkter Kenntnis der Gottheiten oder Gottes ist das menschliche Denken hier ganz auf A. angewiesen. Der eleatische Philosoph Xenophanes fand dies so selbstverständlich, daß er behauptete, wenn Tiere überhaupt eine Vorstellung von etwas Übertierischem haven könnten, so würden die Löwen ihre Götter in Löwen-, die Stiere in Stiergestalt denken. Die Lehre, daß der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen, wäre daher (nach Schleiermacher, besonders nach Feuerbach) richtiger so auszudrücken: Der Mensch schafft Gott (d.h. seine Vorstellung Gottes) nach dem seinigen. Je nach der verschiedenen Vorstellung, die der Mensch von sich selbst hat, muß seine Vorstellung von Gott demnach verschieden ausfallen. Sieht er seine äußere Erscheinung (den Menschenleib) als zu seinem Wesen gehörig und davon unabtrennlich an, so wird er auch seinen Gott nicht ohne dieselbe, nur in erhöhter, sei es ins Kolossale und Ungeheuerliche vergrößerter (wie z. B. der Inder), sei es ins Harmonische verschönerter Form (wie z. B. der Hellene) zu denken imstande sein. Sieht er dagegen sein Inneres, den geistigen und gemütlichen Kern seiner Natur, für das Wesen, seinen menschlich gestalteten Leib nur als dessen zufällige Hülle an, so wird er Gott ohne die letztere als körperlosen, quantitativ und qualitativ weit über die Grenze des Menschtums hinaus gesteigerten, aber nichtsdestoweniger dem eignen Geiste des Menschen ähnlichen Geist vorstellen. Ersteres kann man den gröbern, weil das Übersinnliche in sinnlicher Gestalt anschauenden, dieses den verfeinerten A. heißen. Des erstgenannten kann die Kunst, die das Göttliche versinnlichen will, des letztern auch die Religion sich nicht entschlagen, die das Bild des reinen Gottesgeistes von allen Schlacken der Sinnlichkeit zu reinigen sich bemüht. Daher finden sich nicht nur in allen der Stufe der Sinnlichkeit nahestehenden Religionen menschlich gestaltete Götter. sondern auch in den in der Vergeistigung der Gottesidee am weitesten fortgeschrittenen kommen Ausdrücke vor, die bald der Gottheit Affekte, Leidenschaften (sogar unsittliche: Zorn, Rachsucht) beilegen, wie sie dem Menschen eigen, bald auf Verhältnisse hinweisen, wie sie nur bei Menschen möglich sind, z. B. Vaterschaft, Kindschaft Gottes, Sohn, Mutter Gottes etc.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 571.
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