Dramatisch

[174] Dramatisch heißt in der Poetik eines der fünf Elemente der Poesie (s. Poesie), und zwar dasjenige, das zuletzt in einer besondern poetischen Gattung zu selbständiger Geltung gelangt ist. Während sich das erzählende und das beschreibende Element sowie das reflektierende und das lyrische Element schon in alten Zeiten in besonderer Gattung zu eigner Bedeutung durchgerungen haben, sehen wir das dramatische Element erst in historischer Zeit aus der epischen Dichtung einerseits und aus der lyrischen anderseits hervorwachsen und im Drama zur Herrschaft gelangen. Das dramatische Element bestand jedoch bereits, bevor es eine selbständige dramatische Dichtung gab; aber erst in dieser ist es zum Abschluß seiner Entwickelung gelangt. D. im einfachsten Sinn ist zunächst jede Darstellung. in welcher der Dichter nicht selbst redet, sondern das Wort an die Phantasiegestalten, die er geschaffen hat, ohne weitere Einführung abgibt. Wenn Goethe im »Erlkönig« den Vater, den Sohn und den Erlkönig ohne jede einleitenden Worte im Dialog abwechseln läßt, so ist seine Darstellung d. Ähnliches findet sich häufig in volkstümlichen erzählenden Dichtungen, insbes. in Balladen; aber auch in der Lyrik, wie z. B. in den Streitgedichten des Mittelalters, ringt das dramatische Element früh nach Geltung. Der Dialog bildet aber erst die Vorbereitung, noch nicht den Abschluß des dramatischen Elements. Zur Vollendung kommt dieses erst, wenn der Dichter die Gestalten seiner Phantasie nicht nur in Wechselreden, sondern auch in Handlungen auseinander einwirken läßt. Dies kann jedoch nur geschehen, indem er sich der Hilfskunst des Schauspielers bedient. Während nun der erzählende Dichter den Menschen in der Gesamtheit seiner Lebensbeziehungen darstellen kann, in der Abhängigkeit von dem Naturmilieu und der menschlichen Umgebung, beeinflußt durch die mannigfaltigsten Schicksalsfügungen und Zufälle, leidend sowohl als handelnd, ist dem dramatischen Spiel ein engerer Kreis gesetzt, insofern der Dichter allein durch die zu selbständigem Leben erhobenen Phantasiegestalten sich äußern kann. Sie aber werden nicht auf die Bühne gestellt, um von Geschehnissen zu erzählen (das würde der epische Dichter mit seinen bequemern Mitteln viel einfacher durchführen können), sondern sie sollen aufeinander einwirken, durch Worte und Taten einander bestimmen. Diejenigen Begebenheiten, deren Ursachen in den Willensregungen der Menschen gelegen sind, nennen wir aber Handlungen im engern Sinne des Wortes, und so bedeutet denn das aus dem Griechischen entnommene Wort Drama nichts andres als Handlung. Die Handlungen im Drama werden aber nicht als vergangen dargestellt, sondern vollziehen sich vor den Augen des Zuschauers. Dieser ist Zeuge, wie ein Wünschen und Begehren sich zu Entschlüssen verdichtet und in Taten umsetzt; in dem Werden und Wachsen leidenschaftlicher Willensbewegungen und deren Vollendung durch Taten findet das dramatische Element seinen Abschluß. D. sind daher diejenigen Inhalte poetischer Darstellung, in denen ein leidenschaftliches Begehren, Wollen und Tun zur Darstellung kommt. Eine Handlung heißt d., die von derartigem Seelenleben erfüllt ist und den Konflikt verschiedener Willenskräfte vorführt; undramatisch, wenn sie solches Lebens entbehrt. Im übertragenen Sinne kann daher das Attribut d. auch für eine Darbietung des Musikers oder aber für eine Äußerung im wirklichen Leben angewendet werden. Endlich ist das Wort d. auch soviel wie zum Drama gehörig oder auf das Drama bezüglich; in diesem Sinne sprechen wir von dramatischer Kunst, einer dramatischen Aufführung u. dgl. m.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 174.
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