Hamlet

[697] Hamlet, sagenhafter Prinz aus Dänemarks grauer Vorzeit, dessen Geschichte von Shakespeare zu seiner Tragödie gleichen Namens benutzt wurde. Zuerst finden wir die Erzählung bei dem dänischen Geschichtschreiber Saxo Grammaticus des 12. Jahrh.; dänische Geschichtserinnerungen und die Gestalt des römischen Tyrannenmörders Brutus, der ja seine Anschläge gegen die Tarquinier gleichfalls unter dem Mantel der Geistesstörung verbarg, scheinen darin zusammengeflossen. Der Vater des Prinzen ist hier von dessen Onkel Fengo öffentlich umgebracht worden. Amleth, wie der Prinz bei Saxo heißt, entgeht, als der geborne Rächer, dem Tode nur dadurch, daß er sich blödsinnig stellt, bis ihm ein Fest Gelegenheit gibt, den trunkenen Onkel samt dessen Anhang niederzumachen. Von freiwilligem Zögern, Gewissensbedenken und geistreichem Grübeln ist hier noch keine Spur; ein Freund und eine Geliebte sind vorhanden, aber von Horatio und Ophelia tragen sie kaum einen Zug. Vgl. Zinzow, Die Hamletsage (Halle 1877). Von Saxo ging die Geschichte in die »Histoires tragiques« des Belleforest über (Par. 1564) mit einigen moralisierenden Zutaten. Daraus machte ein Vorgänger Shakespeares, wahrscheinlich Kyd, eine Tragödie im Senecastil, die uns verloren ist, auf die wir aber seit 1589 einige Anspielungen besitzen; vielleicht stammt aus ihr auch der deutsche, von den englischen [697] Komödianten gespielte Text »Der bestrafte Brudermord«. In diesem sogen. Ur-Hamlet trat bereits der Geist auf, an einem kalten Wintermorgen und mit dem Ruf nach Rache. Vgl. G. Sarrazin, Th. Kyd und sein Kreis (Berl. 1892). Shakespeares Bearbeitung dieses Stückes wurde 1602 zum Druck angemeldet, 1603 zuerst veröffentlicht und 1604 in einer teilweisen Umredaktion neu gedruckt, worin erst der Name Polonius (früher hieß er Corambis) vorkommt. Shakespeare hat in die alte Rachefabel viel von der verfeinerten Stimmung der Renaissancezeit gebracht und dadurch eine jährlich noch wachsende Menge von Erklärungsversuchen hervorgerufen (vgl. die betreffenden Artikel im »Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft«). Die Deutung, die sich bisher am meisten Anklang verschaffte, ist die von Goethe im »Wilhelm Meister«, der im zaudernden Hamlet etwas von seinen eignen weichen Liebhabern (Weislingen, Clavigo etc.) wiederfand.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 697-698.
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