Jus primae noctis

[393] Jus primae noctis (lat., »Recht der ersten Nacht«, Herrenrecht, Droit de seigneur, Droit de culage, Droit de prélibation), das Recht des Gutsherrn, bei der Verheiratung seiner weiblichen Hörigen ihnen zuerst in der Brautnacht beizuwohnen. Obwohl viel bestritten von der Wissenschaft (vgl. besonders K. Schmidt, Das Jus primae noctis, Freiburg 1881), läßt sich das J. ooch nachweisen. Es wird uns bezeugt aus alter Zeit von den Adyrmachiden, den Kephalenen, später von den Germanen, Schotten, Iren und Basken, aus neuester Zeit von südamerikanischen Stämmen und von den Völkern des Morgenlandes, von Eskimos, dem australischen Stamme der Wa Teita und von den Australnegern, also aus allen Zeiten und allen Ländern. Das für unser heutiges Empfinden Gemeine uno Unbegreifliche des J. wird uns sofort klar und begreiflich, wenn wir uns daran erinnern, daß unsrer Einzelehe die Gesamtehe vorausgegangen ist, daß die Frau bei der Gesamtehe dem gesamten Stamme gehörte, daß auch nach dem vollständigen Siege der Einzelehe doch noch jahrhundertelang das Mädchen zuerst allen Stammesgenossen gehören mußte und dann erst ein Stammesgenosse dieses Mädchen als Frau und damit erst als unbestrittenes und unantastbares Eigentum erwerben konnte. Berücksichtigt man dann den auch auf andern Gebieten zu beobachtenden Gang der Entwickelung, daß die Stammesgenossen bei Erstarken der Aristokratie und des Königtums durch die Vornehmsten und Mächtigsten des Landes abgelöst wurden, so wird uns das J., wenn auch nicht sympathisch, so doch begreiflich erscheinen. Wie die Stammesgenossen, so haben später die Häupter des Stammes unbefangen den Töchtern ihres Stammes beigewohnt, und erst das Christentum hat allmählich mit dieser völlig begreiflichen Gewohnheit nach und nach aufzuräumen vermocht. Als Überbleibsel hiervon ragte dann noch lange in die Zeit höherer oder sagen wir offen mit einem gewissen Beigeschmack »verfeinerter« sittlicher Auffassung der Geschlechtsgemeinschaft der sogen. Jungfernzins herein, d. h. eine Abgabe, die der Ehemann dem Grundherrn dafür geben mußte, daß dieser einstmals das Recht hatte, die Blüte seiner weiblichen Hörigen, falls ihm beliebte, zu pflücken. Vgl. Wilutzky, Vorgeschichte des Rechts (Bresl. 1902–03, 3 Tle.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 393.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: