Kristallisationskraft

[711] Kristallisationskraft. Ein Kristall, der, auf dem Boden einer Glasschale liegend, wächst, hebt sich etwas, wenn auch nur wenig in die Höhe, so daß die Unterseite hohl wird. Auffälliger zeigt sich die Erscheinung bei Kristallisation auf Kieselsäuregallerte, die mit der betreffenden Lösung getränkt ist. Die Kristalle wachsen dann in Form von Säulchen oder langer Haare in die Luft hinaus, heben also ihr eignes Gewicht. Bei der Kristallisation in den Poren von Tongefäßen[711] kann die harte Tonmasse gesprengt werden. Im Winter beobachtet man häufig im Walde Erdschollen, die durch faseriges Eis auf der Unterseite emporgehoben wurden. Vermutlich sind alle diese Wirkungen bedingt durch die Adsorption von Flüssigkeitsschichten auf der Kristalloberfläche, also überhaupt nicht direkte Wirkungen der das Anhaften und die Parallelrichtung der neu herankommenden Kristallmoleküle bewirkenden molekularen Richtkraft. Sehr deutlich kommt aber letztere zur Geltung bei einigen enantiotropen und monotropen Umwandlungserscheinungen. Beispielsweise geht ein gerades Prisma der labilen Modifikation von Protokatechusäure unter relativ großer Kraftentwickelung in ein schiefes über, wobei die Verschiebungsrichtung während der Umwandlung sich ändern oder gar der Kristall sich gabelförmig spalten kann. Die Kraft ist groß genug, um kleine Hindernisse zu beseitigen oder den Kristall selbst aus seiner Lage zu bringen. Noch auffälliger zeigt die Erscheinung Paraazophenetol, das nach dem Erstarren infolge dieser Wirkung sich aufbläht und in ein loses Pulver zerfällt.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 711-712.
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