La Bruyère

[12] La Bruyère (spr. -brǚijǟr'), Jean de, berühmter franz. Charakter- und Sittenschilderer, getauft 17. Aug. 1645 in Paris, gest. 10. Mai 1696 in Versailles, studierte die Rechte, ward aber bald nach seiner Aufnahme in den Advokatenstand seiner Stellung überdrüssig und kaufte sich das Amt eines Schatzmeisters in der Generalität (Steuerbezirk) zu Caen, das ihm erlaubte, unabhängig in Paris zu leben und sich ganz den Wissenschaften zu widmen. 1684 wurde er auf Bossuets Verwendung berufen, den Enkel des großen Condé Geschichte zu lehren, und blieb bis an seinen Tod diesem Hause treu ergeben. Hier, in abhängiger Stellung, in der nur seine Würde und sein Takt ihn vor mancher Demütigung bewahrten, konnte er das Leben und Treiben der Hofkreise aus nächster Nähe beobachten. Er schilderte die verschiedenen Menschentypen in seinem berühmten Buch: »Les Caractères de Théophraste, traduits du grec, avec les caractères ou les mœurs de ce siècle« (1688). Im Laufe d. J. erschienen noch zwei Auflagen, und sechs andre folgten bis zum Tode des Verfassers, jede mit ansehnlicher Vermehrung, so daß die ursprüngliche Zahl von 420 Charakteren schließlich auf 1120 anwuchs. Das Buch erlebte unzählige Ausgaben; die besten sind die von Servois in der Sammlung der »Grands écrivains« (Par. 1866–1878, 3 Bde.) und die von Chassang (das. 1876. 2 Bde.). L. hatte sich vielfach zu verteidigen gegen den Vorwurf, er habe Satiren schreiben und boshafte Angriffe gegen einzelne richten wollen, und schon zu seinen Lebzeiten existierten sogen. Schlüssel, welche die vermeintlichen Anspielungen erklären sollten; sie wurden später mit den »Charakteren« zusammen gedruckt, besonders 1697 und 1732 (neu hrsg. von Ed. Fournier: »La comédie de L.«, Par. 1872, 2 Bde.). Die Vorrede zu seiner Antrittsrede an die Akademie (1693) widerlegt diese Unterstellungen und gibt eine genaue Darlegung von dem Plan des Werkes. Das Buch ist beinahe in alle modernen Sprachen (ins Deutsche von Eitner, Hildburgh. 1870, und in »Meyers Volksbüchern«; von Hamel, Stuttg. 1884) übersetzt und verdient diese Ehre durch die Gediegenheit des Inhalts wie durch die selbst einem Voltaire Bewunderung entlockende klassische, zuweilen freilich stark pointierte Form. Vgl. Rahstede, L. und seine Charaktere (Oppeln 1886); Allaire, L. dans la maison de Condé (Par. 1886, 2 Bde.); Pellisson, La Bruyère (das. 1892); Morillot, La Bruyère (das. 1904). Über die »Schlüssel« vgl. Janet in der »Revue des Deux Mondes«, 15. Aug. 1885.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 12.
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