Naturell [2]

[455] Naturell (franz. naturel), der Inbegriff der ganzen leiblichen Eigentümlichkeit des Individuums, sofern seine geistige dadurch bleibend beeinflußt wird. Streng genommen hat jeder Mensch, weil unter besondern äußern physikalischen Einflüssen (Boden, Klima, Nahrungsverhältnissen etc.) und von besondern Eltern (Goethes »Frohnatur« von der Mutter, »Statur« und »des Lebens ernste Führung« vom Vater) geboren, sein eignes N. Wird im weitern Sinn die ganzen Familien, Stämmen, Völkern, die unter gemeinsamem Himmelsstrich und verwandten physischen Bedingungen leben, sowie die Geschlechtern und Lebensaltern allenthalben gemeinschaftliche leibliche Beschaffenheit in Betracht gezogen, so läßt sich von einem Familien-, Stammes, Volks- sowie von einem Geschlechts- und Altersnaturell sprechen. Südlichen Völkern wird ein hitziges, nördlichen ein kälteres N. beigelegt; gewisse Familien, z. B. die der ersten römischen Cäsaren, zeichneten sich durch ein erbliches N. (»Cäsarenwahnsinn«) aus; große Herrscherinnen, wie Elisabeth, Maria Theresia, Katharina II., vermochten doch niemals vollständig das N. des Weibes zu verleugnen; im Knaben, Jüngling, Mann und Greis äußert sich nach der berühmten Schilderung der Lebensalter in Horatius' »Brief an die Pisonen« ein verwandeltes N. Da sich die leibliche Konstitution bis zu einem gewissen Grade durch künstliche Mittel (Diät, ausschließlichen Genuß gewisser Nahrungsstoffe, Vegetarismus) bleibend umstimmen läßt, wodurch auch deren Einfluß auf das geistige und Gemütsleben sich ändert, so kann man im Gegensatz zum ursprünglichen (angebornen) auch von einem anerzogenen (erworbenen) N. reden. Auf Verschiedenheiten des Naturells, sofern nämlich verschiedene Individuen in verschiedener Weise zu Affekten und Trieben disponiert sind, beruht auch das Temperament (s. d.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 455.
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