Sozialpolitik

[642] Sozialpolitik, im weitern Sinne das Verhalten des Staates (und der übrigen öffentlichen Körper) gegenüber den gesellschaftlichen Zuständen und Klassen; im engern Sinne die Tätigkeit des Staates und der Selbstverwaltungskörper (Gemeinden; kommunale Sozialpolitik), welche die von einzelnen Gesellschaftsklassen andern oder der Staatsgesamtheit drohenden Gefahren abzuwenden oder die Verhältnisse einzelner sozialer Klassen, die sich gegen andre nicht selbst zu helfen vermögen, also vor allem der arbeitenden Klassen, im Interesse der Staatsgesamtheit zu fördern bestrebt ist. Als wissenschaftliche Disziplin ist S. insbes. die Lehre von der Arbeiterfrage (s. d.), namentlich von den Maßnahmen, die eine Verbesserung der Lage der Arbeiter und deren Schutz gegen die Nachteile und Gefahren des heutigen Arbeitsverhältnisses bezwecken. Die Fragen der S. werden gerade in der Gegenwart besonders lebhaft erörtert, und es haben sich im öffentlichen Leben und in der Literatur verschiedene Parteirichtungen herausgebildet. Während der Sozialismus (s. d.) die gesellschaftliche Verfassung von Grund aus ändern will, hält die heutige praktische S. an der gegebenen sozialen und Eigentumsordnung grundsätzlich fest und will auf deren Boden durch die Arbeiterschutzgesetzgebung (s. Fabrikgesetzgebung), durch die Arbeiterversicherung (s. d.), durch entsprechende Steuerverteilung, Verwaltungsmaßnahmen verschiedener Art etc. die Lage der untern Klassen verbessern und die durch Privateigentum und freien Wettbewerb sich bildenden Klassengegensätze mildern. In diesem Sinne hat namentlich der Verein für S. gewirkt, der 1872 in Eisenach gegründet wurde und bis zur Neuzeit für Vorbereitung von feil her in Gesetzgebung und Verwaltung eingetretenen Änderungen tätig gewesen ist (vgl. Kathedersozialisten). Der Verein hat seinen Sitz in Berlin und gibt seit 1873 »Schriften des Vereins für S.« heraus. Für internationale S. wirkt die Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (s. d.). Über die verschiedenen sozialpolitischen Richtungen der Gegenwart s. Arbeiterfrage. Vgl. Bünnecke, Handbuch der sozialen Gesetzgebung des Deutschen Reichs (Leipz. 1891); Höpker, Die gewerbe- und sozialpolitischen Gesetze für das Deutsche Reich (Berl. 1894); Wasserrab, Soziale Politik im Deutschen Reich, ihre bisherige Entwickelung etc. (Stuttg. 1889); Bornhak, Die deutsche Sozialgesetzgebung systematisch dargestellt (4. Aufl., Tüb. 1900); von der Borght, Grundzüge der S. (Leipz. 1904); Stier-Somlo, Die deutsche Sozialgesetzgebung (Jena 1906); Else Conrad, Der Verein für S. und seine Wirksamkeit etc. (Jena 1906); »Evangelisches Volkslexikon zur Orientierung in den sozialen Fragen« (hrsg. von Schäfer, Bielef. 1900); v. Finckh, Handlexikon der sozialen Gesetzgebung (Berl. 1905); Weber, Soziales Handbuch (Hamb. 1907); »Soziale Praxis« (hrsg. von E. Franke, das., seit 1895); Stammhammer, Bibliographie der S. (Jena 1897).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 642.
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