Tiro, Marcus Tullius

[566] Tiro, Marcus Tullius, röm. Grammatiker, um 94 v. Chr. bis 5 n. Chr., anfänglich Sklave, später Freigelassener des Cicero und dessen Freund, Geheimsekretär und Biograph. Er gab Reden und Briefe Ciceros heraus und verfaßte auch Schriften enzyklopädischen und grammatischen Inhalts. Besonders bekannt ist T. als Erfinder der altrömischen Kurzschrift, der sogen. Tironischen Noten. Am weitern Ausbau des Systems im 1. Jahrh. war Seneca beteiligt, der die Zahl der Zeichen bis auf 5000 brachte; im fernern Verlaufe bis in die Karolingerzeit sind noch ungefähr 8000 hinzugekommen. Das Alphabet dieser Stenographie (Schriftprobe s. Tafel »Stenographie I«) ist gebildet durch Verkürzung und Vereinfachung der römischen Majuskel. In Verbindung miteinander erfahren die Buchstaben mancherlei Modifikationen und Verschmelzungen, für einige Vokale besteht eine einfache symbolische Bezeichnung an dem vorangehenden Konsonantzeichen. Als Abkürzungen stehen Buchstabenzeichen für ganze Wörter: durch kleine diakritische Merkmale werden aus einem Zeichen viele Abkürzungen dieser Art gebildet. Bei der Mehrzahl der nicht derart gekürzten Wörter geschieht die Vereinfachung durch Auslassen von Buchstaben ohne erkennbare, systematische Regelmäßigkeit. Geschicktes Verwerten des Punktes und der verkleinerten Buchstaben als Nebenzeichen gibt weitere Mittel zur Kürzung, die auch im zusammenhängenden Satz Anwendung findet. Geschwindschreiber (notarii) nahmen mit solchen Noten Reden und Verhandlungen wörtlich auf. Unter den Kaisern war die Kurzschrift Lehrgegenstand in den Schulen, und die altchristliche Kirche nahm ihre Dienste ausgiebig in Anspruch. Mit dem Altertum schwand auch ihre Kenntnis, doch erlebte sie unter den Karolingern noch eine Nachblüte. Unsre Kenntnis davon beruht teils auf ganzen Werken oder einzelnen Abschnitten in Tironischen Noten, die sich erhalten haben, teils auf lexikonartigen Lehrbüchern. Gesamtausgabe von SchmitzCommentarii notarum Tironianarum«, Leipz. 1893; dazu »Miscellanea Tironiana«, das. 1896). Vgl. Mitzschke, M. T. Tiro (Berl. 1875) und Quaestiones Tironianae (das. 1875); Jaufmann, M. T. Tiro (Dillingen 1897); Lehmann, De notis Tironis et Senecae (Leipz. 1869); Rueß, Die Tachygraphie der Römer (Münch. 1879); weitere Literatur bei Artikel »Stenographie«, S. 932.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 566.
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