Funfzehnte Familie: Vipern (Viperidae)

[449] Die Vipern (Viperidae) sind sehr übereinstimmend gebaute und ausgezeichnete Giftschlangen. Sie kennzeichnet der sehr gedrungene, zuweilen fast unförmlich dicke Leib, der drei-, richtiger ungleichseitig viereckige, platte, auf der Oberseite der Schnauze beschuppte oder mit sehr zahlreichen und kleinen, durchaus unregelmäßig gestalteten und angeordneten Schildern bekleidete Kopf sowie endlich der kurze, stumpf kegelförmige, nur ausnahmsweise greiffähige Schwanz, und sie unterscheidet von den Lochottern, den einzigen Schlangen, mit denen sie verwechselt werden könnten, das Fehlen einer mit Schildern umgebenen Grube in der Gegend zwischen Nasenloch und Auge.

Nach den eingehenden Untersuchungen von Strauch, welcher die Vipern neuerdings bearbeitet und, wie immer, trefflich beschrieben hat, zählt die Familie nicht mehr als zweiundzwanzig bekannte Arten, von denen drei in Europa vorkommen, aber auch entweder in Asien oder in Afrika verbreitet, zwölf Afrika und vier Asien eigenthümlich sind und die übrigen Asien und Afrika gemeinschaftlich angehören. Ihr allgemeines Verbreitungsgebiet theilt sich jedoch nicht nach den Erdtheilen ein, sondern zerfällt in das vom Mittelmeere bis zum Stillen Weltmeere reichende nördliche, in das südasiatische und in das äthiopische Untergebiet. Im ersteren, welches in den Ländern um das Mittelmeer gewissermaßen seinen Brennpunkt hat, leben neun, im südasiatischen zwei, im äthiopischen endlich elf Arten. Diese Angaben erleiden, nachdem sich herausgestellt zu haben scheint, daß die als zwei Arten unterschiedenen Rauhottern Afrikas und Ostindiens gleichartig sind, eine entsprechende Berichtigung.

Mit alleiniger Ausnahme dreier, einer besonderen Sippe angehörigen, noch wenig bekannten Arten, welche ein Baumleben führen, sind die Vipern langsame, auf den Boden gebannte Giftschlangen und ohne Ausnahme vollendete Nachtthiere, welche, ungezwungen, erst nach Sonnenuntergang ihre Thätigkeit beginnen. Wirbelthiere, insbesondere kleinere Säugethiere und Vögel, dann und wann auch Eidechsen, nicht aber Fische, bilden die Beute, welcher sie nachstreben. Auf länger währende Verfolgung lassen sich wohl nur die kleineren und behenderen Arten ein: ihre Jagdweise ist geduldiges Lauern, plötzliches Vorschnellen des Kopfes, einmaliges Einhauen der furchtbaren Waffen und erfolgbewußtes Abwarten der Wirkung des fast ausnahmslos tödtenden Giftes. Sie sind träger als alle übrigen Giftschlangen und erscheinen uns daher tückischer als ihre sämmtlichen Verwandten, mit denen sie Jähzorn, Wuth und Bosheit gemein haben. Trotz ihrer furchtbaren Bewaffnung und ihres an Wirksamkeit keinem andern nachstehenden Giftes werden sie dem Menschen weit weniger verderblich als die Giftnattern, minder gefährlich auch als ihre nächsten Verwandten, die Lochottern, richten aber immerhin noch Unheil genug an. Alle entsprechen ihrem Namen; denn alle bringen lebende Junge zur Welt. Ihre Vermehrung ist nicht besonders stark, ihre Widerstandsfähigkeit gegen gefährdende Einflüsse aber bedeutend und die Anzahl ihrer Feinde verhältnismäßig gering, ihre Häufigkeit daher leicht erklärlich und Aufbietung aller denkbaren Vertilgungsmittel seitens des Menschen als geradezu unerläßliche Pflicht dringend geboten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 449.
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