Zur Weltgeschichte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends

(1935)

[157] Die folgenden Skizzen sind aus zehnjährigen Vorarbeiten zu einer Weltgeschichte »von Anfang an« entstanden, das heißt von der Zeit an, wo die menschliche Seele sich innerlich von der Tierseele abzuheben beginnt, vielfältiger und leidenvoller wird, und damit das menschliche Leben und seine Wirkung nach außen eine eigene, vertiefte Bedeutung erhält. Nachdem ich im »Untergang des Abendlandes« die Morphologie der Hoch- und Endkulturen gegeben hatte, wollte ich die geschichtlichen Voraussetzungen dafür, die primitiveren Kulturformen und -stufen bis zu ihrem frühesten Keim verfolgen. Diese Untersuchungen erhielten aber einen Umfang und führten zu Einsichten, die es rechtfertigen, wenn wenigstens ein Teil von ihnen für sich der Öffentlichkeit übergeben wird.

Es stellte sich unter anderm heraus, daß das zweite Jahrtausend v. Chr. im Schicksal des weltgeschichtlichen Menschen entscheidend gewesen ist. Die alten, heißen Südkulturen, Ägypten und Babylon, gehen zu Ende. Der Schwerpunkt des großen Geschehens wandert nach dem kälteren, strenger durchgeistigten, härter kämpfenden Norden, und diese Bewegung hat sich fortgesetzt. Hier, in einer ungeheuren Ausdehnung von Westeuropa bis nach Ostasien hin, entstehen innerlich verwandte, neue Arten menschlichen Seelentums, denen das lässige Weltgefühl des Südens fremd ist. Hier beginnt man das Leben als Rätsel zu empfinden, weil es nicht leicht und nicht mehr ganz selbstverständlich ist. Das Denken, von Nähe und Augenblick und vom unmittelbaren Tun sich abwendend, gewinnt erst hier eine große Form. Der Lebensinhalt, die Tat, wird wichtiger als das bloße lebendige Vorhandensein. Und auf die Tat richtet sich nun das Fühlen und Nachdenken des einzelnen. Auf dieser Grundlage, im Kampf mit jenem älteren Weltgefühl, erwachsen nebeneinander[158] die antike, indische und chinesische Hochkultur, alle drei halbnordisch, persönlicher, herrenhafter, sich mit schweren Erlebnissen herumschlagend, stolz auf sie statt sie zu meiden, aber im Süden und am Süden sich verzehrend.

Und dieses mächtige Werden und Vergehen beruht wieder auf seelischen Tatsachen des dritten, vierten und fünften Jahrtausends, die überall im Stil des Lebens und seiner Ausdruckswelten zutage treten. Ob sie uns, bekannt sind oder nicht, sie sind dagewesen. Es geht nicht an, Geschichte in dem Augenblick beginnen zu lassen, wo wir etwas von ihr wissen.

Was bisher darüber gesagt worden ist, ist meist nicht richtig, nicht »metaphysisch« genug gesehen, zu eng, zu sehr an Zügen der Oberfläche haftend, oft überhaupt nicht gesehen, sondern nur stofflich kombiniert. Der Durchschnittsgelehrte erhebt sich nicht über die Tatsachenmasse. Er ist ihr Sklave, nicht ihr Meister. Das weltgeschichtliche Schauen, erst seit hundert Jahren unter uns entstehend, ist noch nicht auf die mögliche Höhe gelangt. Erst die ungeheure späte Krise, welche das 19. und 20. Jahrhundert für die abendländische Kultur, die nördlichste und vielleicht die letzte, darstellt, hat das Auge dafür geschaffen. Das weltgeschichtliche Denken ist die eigentliche Philosophie der Zeit,1 eine tiefe Skepsis gegenüber der Tatsache »Mensch«, auf die man samt ihren Gedanken, Taten, Schöpfungen und allen »ewigen« Werken herabsehen muß, um sie zu verstehen, zu durchschauen.

Was zunächst entstand, waren Fachwissenschaften, deren große Zeit das vorige Jahrhundert gewesen ist.2 Auch die Sondergeschichten[159] schichten einzelner Zeiten, Völker, Religionen, Künste, Sitten gehören dazu. Man beherrscht nur einen begrenzten Stoff und hat den Horizont dieses Bereichs. Der künstlich isolierte Stoff entwickelt aus seinen Bedingungen die Methode des Darübernachdenkens und die vollkommen gewordene Methode enthält schon, ist schon das Resultat. Sie erschließt nicht, sondern ersetzt den Blick in die Wirklichkeit. Ihre Strenge bestimmt den Rang des Fachmanns. Aber es handelt sich heute nicht mehr um dies oder jenes, sondern um alles, und nicht mehr um ein Sammeln und Ordnen von Einzelheiten, sondern um einen Gesamtblick über die große Einheit des Geschehens hin. Philologie, Archäologie, Prähistorie, Ethnographie, Psychologie sind Vor Wissenschaften der Geschichtsschreibung. Man muß sie kennen, alle zusammen, aber niemand bilde sich ein, in einer von ihnen das Wesen menschlichen Geschehens anzurühren. Ihr Wissen ist der Stoff und das Mittel des letzten Schauens, nicht dieses selbst. Die große Geschichtsschreibung aber ist überhaupt keine »Wissenschaft« – so wenig als echte Philosophie Wissenschaft ist –, sondern eine Kunst, schöpferische Dichtung, Verschmelzung der Seele des Schauenden mit der Seele der Welt. Sie ist mit der großen Epik und Tragödie und der großen Philosophie in der Tiefe identisch. Sie ist Metaphysik.

Auch was der Historiker der Einzelgeschichte aufbaut, etwa eine Geschichte Ägyptens, Japans, des Islam, der Reformation, ist ohne diesen Blick nur Vorarbeit, ein Bericht über Funde in Literaturen, Archiven, Museen, Sprachresten und Ruinen, »kausal« oder chronologisch geordnet, kein Bild des auf der Erdrinde strömenden Lebens, in dem dessen letzte Geheimnisse spürbar werden.

Nur wenige Forscher wie Ranke und Eduard Meyer haben sich zuletzt von der Sklaverei gelehrter Sondermethoden befreit und Schritte in das weite Gebiet getan, von dem hier die Rede ist. Die meisten blieben im Banne des Sonderhorizonts ihres Faches und des Ehrgeizes ihrer Spezialität. Wer über ein Kapitel der schriftlich reicher bezeugten Geschichte Ägyptens, Chinas oder der Antike schrieb, haftete an dessen Daten und Urkunden, ohne die innerlich zugehörigen Epochen ferner und früherer Kulturen eines[160] gründlichen Vergleiches zu würdigen. Aber seit dem zweiten Jahrtausend v. Chr. stehen z.B. Westeuropa und Ostasien in beständiger Beziehung zueinander, die enger ist und tiefer liegt, als daß gelegentliche Erwähnung genügte. Literarisch wenig bekannte Zeitalter wurden durch das Fernglas von Philologie und Archäologie gesehen, und was man so sah, waren im Grunde nur Leute, die in bestimmten grammatischen Formen sprachen, bestimmte Häuser und Geräte herstellten und schließlich in einer bestimmten Art begraben wurden. Aber das ist keine Geschichte. Und was die »Vorgeschichte« betrifft, das heißt nach herrschender Meinung die Weltgeschichte aus unliterarischen Quellen, so ist sie noch heute nicht viel mehr als ein zeitlich geordneter Kommentar zu Museumsbeständen. Man redet von Fundschichten, die sich verdrängen, Verbreitungsgebieten, die sich dehnen und zusammenziehen, von wandernden Ornamenten, Verbalformen und Topfarten, als ob das Quallen oder Raupen wären. Aber weder Konsonanten noch Topfhenkel wandern, sondern Menschen, die etwas wollen; und nicht aus Schichten von Scherben und Mauerresten liest man wirkliche Geschichte ab. All diese Gelehrsamkeit ist im Grunde Systematik. Geschichte aber ist das Unsystematische an sich, das Einmalige, das Persönliche, das Unvorhergesehene. Geschichte ist Schicksal.

Diese Forschung eines Jahrhunderts hat ein ungeheures, vielfach geringes und überflüssiges Material zusammengebracht, das sich immer noch vermehrt. Es liegt da, durch allzuenge Deutungsversuche eher noch einmal verschüttet als erschlossen, und wartet darauf, ob es gelingt, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Alles was je gefunden worden ist, redet vom Leben, das einmal war. Im Leben aber, und sei es das geringste, liegt die ganze Metaphysik der wirklichen Welt.

Die folgenden Versuche wollen nichts als zeigen, wie man sehen kann und muß, und wie unendlich viel mehr sich sehen läßt, wenn man den Blick dafür hat.

1

Deshalb ist Philosophiegeschichte das letzte lebendige Gebiet der Philosophie geworden; Kunstgeschichte löst die Systeme der Ästhetik ab; selbst die Geschichte der naturwissenschaftlichen Theoriebildung ist in ihrer großartigen Skepsis gegenüber den Ergebnissen abstrakten Denkens wichtiger geworden als die einzelne Theorie, an die selbst ihr Urheber nicht unbedingt glaubt. Sie ist Arbeitshypothese, nicht »Wahrheit«.

2

Gelehrte großen Stils vom Typus Mommsens oder Helmholtz' wird es in Zukunft nicht mehr geben, wie es sie vorher nicht gab. Was in Zukunft den Rang auch des Fachgelehrten bestimmt, ist die Fähigkeit, weit über sein Gebiet nicht nur hinauszusehen, sondern hinauszudenken.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 157-161.
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