Billigkeit

[792] Billigkeit (Aequitas), 1) der innere Sinn, der nicht vom strengen Rechte, sondern von der Liebe geleitet wird u. deshalb nicht blos das Gesetz, sondern auch Zeit, Ort, Personen, Verhältnisse, Umstände berücksichtigt u. darnach seine Forderungen od. Leistungen modificirt. Der äußere Richter kann sie nie fordern, wohl aber das Gewissen. Von den Alten wurde die B allegorisch dargestellt als Weib, in der Linken eine Lanze, in der Rechten eine Wage, zu den Füßen eine Schlange od. ein Rad; 2) (Rechtsw.), im Gegensatz des positiven Rechts die nach allgemein menschlichen Rücksichten u. dem natürlichen Gerechtigkeitsgefühl sich darbietende Entscheidung einer Sache. Die B. tritt überall in der Geschichte des Rechtes als ein höchst bedeutsamer Moment hervor, indem sie die Ausbildung des in der Regel ursprünglich in starke Formen eingeschlossenen Rechtes zu freieren Grund ätzen vorbereitet u. so die Harmonie zwischen dem äußeren Rechtsorganismus u. der fortschreitenden Entwickelung der Gerechtigkeitsidee vermittelt. In dieser Beziehung ist bes. die Geschichte des Römischen Rechtes, in welcher die Aequitas als Grundlage des Jus gentium u. Jus honorarium eine bedeutende Rolle spielt, sehr lehrreich. Bei der praktischen Anwendung bestehender Rechtssätze ist dem Richter nur in beschränkter Weise gestattet, auf die Grundsätze der B. Rücksicht zu nehmen. Am wenigsten ist dies bei Entscheidungen über echtlicher Natur gestattet. Hierbei[792] darf die B. nur insofern in Betracht gezogen werden, als das Gesetz für besondere Fälle ausdrücklich darauf hinweist. Dies kann der Fall sein, wenn es sich z.B. um Schätzungen handelt, bei welchen die Aufstellung strenger Rechtsregeln oft auf Schwierigkeiten stößt u. die zu bewirkende Ausmittelung des Betrages mehr in das Arbitrium boni viri zu stellen ist; bei Bestimmungen gewisser Fristen; bei Wiedereinsetzungen in den vorigen Stand wegen vorgefallener Versäummisse etc. Bei diesem Allen hat der Richter jedoch immer nicht sowohl sein individuelles Gefühl, als vielmehr die objectiven Grundsätze der Gerechtigkeitsidee walten zu lassen. Es darf daher dabei das Recht Dritter nicht verletzt, ein auch hartes Gesetz nicht umgangen od. willkührlich abgeändert u. nicht nach Gründen der Gesetzgebungspolitik geurtheilt werden. Ausgedehnter ist die Anwendung der B. bei b) criminalrechtlichen Entscheidungen, was darauf beruht, daß das Criminalrecht mehr nach Verwirklichung des materiellen Rechts, nicht blos, wie das Civilrecht, nach Darstellung des äußeren, formalen Rechtes strebt. Der Einfluß der B-srücksichten kommt hier bes. bei Ausmessung der Strafe zur Anwendung, indem es dem Richter nach der Natur des Strafgesetzes in der Regel gestattet ist, die Höhe der Strafe unter Berücksichtigung aller einschlagenden Momente, selbst solcher, welche blos in den Motiven der That, der größeren od. geringeren Verstandesschärfe des Angeschuldigten, seinem bisherigen Wandel, der größeren od. geringeren Verderbtheit des Willens beruhe, zu bemessen. Das neuere Strafverfahren hat diesen Rücksichten noch mehr Raum gegeben, indem es da, wo die Gründe der B. so sehr hervortreten, daß eine Bestrafung voraussichtlich mit dem allgemeinen Rechtsgefühl in Widerspruch treten würde (was z.B. bei fahrlässigen Handlungen vorkommen kann), dem Staatsanwalt die Möglichkeit an die Hand gibt, durch Unterlassung der Anklage jedes criminelle Einschreiten von vornherein abzuschneiden. Ganz wesentlich kommen endlich die B-sgründe bei der Frage der Begnadigung in Betracht, bei welcher sie sogar in der Regel die allein entscheidenden sind.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 2. Altenburg 1857, S. 792-793.
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