Cycloīde

[606] Cycloīde (v. gr., Radlinie), eine transscendente Linie, deren Gleichung zwischen rechtwinkligen Coordinaten x = a. arc. cos (a-y/a) - √2ay - y2. Wenn auf einer festen geraden Linie ein Kreis vom Halbmesser a rollt, ohne sich zu verschieben, so beschreibt ein bestimmter Punkt des Kreisumfangs die C. Man versinnlicht sich demnach die C. am leichtesten, wenn man sich den Bogen denkt, welchen ein Nagel an einem Wagenrad, während einmaliger Umdrehung desselben um die Achse, auf einer Ebene, von einem Punkte dieser Ebene bis zu einem folgenden, wo es wieder damit in Berührung kommt, in der Luft beschreibt. Der Abstand zweier Punkte, in denen der beschreibende Punkt mit der festen Geraden zusammenfällt, ist also gleich dem Umfang des erzeugenden Kreises. Über dieser Linie als Basis erhebt sich eine bogenförmige gegen die Senkrechte aus der Mitte der Basis symmetrische Linie; diese Senkrechte heißt daher die Achseder C., sie ist an Länge gleich dem Durchmesser des erzeugenden Kreises u. im Durchschnittspunkte mit ihr, dem Scheitel, erreicht die C. ihren größten Abstand von der Basis. Überdies besteht die ganze C. aus einer unendlichen Reihe solcher congruenter Züge. Sehr einfach ist die Construction der Tangente an der C. in jedem beliebigen Punkte P mit Hülfe der Normale, welche immer = √2 ay ist. Hat man nämlich zur Basis eine Parallele im Abstande a gezogen, so sucht man auf ihr einen Punkt, dessen Abstand von P gleich a ist, fällt von ihm aus eine Senkrechte auf die Basis, macht dieselbe vom Fußpunkte an gleich 2 a u. zieht durch ihren Endpunkt von P aus eine Gerade, welches die gesuchte Tangente ist. Der Flächeninhalt des durch die C. u. ihre Basis begrenzten Raumes ist dem dreifachen Flächeninhalte, die Länge eines ganzen Cycloidenbogens dem vierfachen Durchmesser des erzeugenden Kreises gleich. Die Evolute der C. ist wieder eine C. welche mit ihrer Evolvente einen gleichen erzeugenden Kreis hat, der auf einer der Basis parallelen, in einem Abstande 2 a unterhalb derselben befindlichen Geraden rollt. Wenn man also einen vollkommen biegsamen um die C. gelegten Faden in dem einen Endpunkte eine C. befestigt u. ihn abwickelt, während er immer gespannt bleibt, so beschreibt sein Endpunkt eine C. Der Cycloidallsche Körper, welcher durch Umdrehung der C. um ihre Basis beschrieben wird, verhält sich zu dem Cylinder, dessen Höhe gleich dieser Basis u. dessen Halbmesser gleich dem Durchmesser des erzeugenden Kreises ist, wie 5: 8. Außer diesen merkwürdigen geometrischen Eigenschaften besitzt die C. auch großes Interesse für mehrere physikalische Probleme. Ein Körper, welcher auf einer umgekehrten C., deren convexe Seite nach unten gekehrt ist, bis zum tiefsten Punkte herabfällt, braucht eine gleich lange Zeit, einen wie großen Bogen er auch beschreiben mag; ein Pendel also, welches eine C. beschreibt, hat für verschieden große Schwingungsbogen in aller Strenge gleiche Schwingungsdauer. Daher heißt die C. auch Tautochrona od. Isochrona; ein solches Pendel läßt sich aber in Berücksichtigung obiger Bemerkung über die Evolute der C. in der That darstellen. Wenn ferner ein schwerer Körper von einem Punkte zu einem andern nicht senkrecht unter ihm liegenden Punkte in möglichst kurzer Zeit fallen soll, so muß er einen Bogen einer nach unten gekehrten C. beschreiben, deren Scheitel mit dem zweiten Punkte[606] zusammenfällt; daher heißt die C. auch Brachystochrona. Endlich die Brennlinie der C. für Parallelstrahlen mit der Achse ist eine C., für welche der Durchmesser des erzeugenden Kreises halb so groß ist, als bei der ursprünglichen C. Galilei hat die C. zuerst untersucht; die schönsten Entdeckungen ihrer Eigenschaften sind ferner Pascal, Huyghens u. den Brüdern Bernoulli zu verdanken. Außer der einfachen C. (C. primaria) unterscheidet man noch eine gedehnte od. geschweifte C. (C. prolata, C. inflexa) u. eine verkürzte od. verschlungene (C. curtata, C. nodata). In jener ist der Punkt, welcher die krumme Linie beschreibt, innerhalb, in dieser außerhalb des sich wälzenden Kreises. Descartes untersuchte schon diese verwandten Arten.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 606-607.
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