Schreien

[427] Schreien, 1) die natürlichste Anstrengung der Stimme in lauten unarticulirten Tönen; ist einfacher, durch den Instinct gebotener Ausdruck eines lebhaften Gefühls. Da aber das Gefühl zunächst an ein Bedürfniß geknüpft ist, so ist das S. zugleich eine Naturforderung, entweder von etwas Belästigenden entledigt, od. etwas Ermangelnden theilhaftig zu werden. Es ist die erste Lebensäußerung des neugebornen Kindes, u. bleibt die Andeutung eines Mißbehagens od. des Bedürfnisses nach Nahrungsmittel, bis es sprechen lernt. Das S. des Kindes im Mutterleibe (Vagitus uterinus) ist eine vielfach aus physiologischen Gründen bestrittene, doch aber nach zerrissenen Eihäuten, abgeflossenen Wassern u. geeigneter Lage des Kindes nicht geradezu als unmöglich u. ungeschehen zu erachtende Erscheinung. Diese Möglichkeit ist bes. in der gerichtlichen Medicin von Wichtigkeit, weil ein Kind, welches im Mutterleibe geschrieen, also geathmet hat, u. dann vor geendigter Geburt gestorben ist, also todtgeboren wird, doch die, als Zeichen des nach der Geburt Statt gehabten Lebens angenommenen Veränderungen an den Lungen zeigen kann (vgl. Embryo, Geburt, Lungenprobe). Aber auch wenn der Mensch im Besitz der Sprache ist, macht das S. als natürlicher Ausdruck eines tief angeregten Gefühls sich geltend, theils als Schmerzlaut od. Freudenschrei, theils, indem es sich der Sprache zugesellt, um dieselbe eindringlicher zu machen, od. auch zur Erhöhung des Eindrucks, um entweder, Vielen u. weit in den Raum hinaus vernehmlich zu werden, od. als Andeutung aufgeregter Leidenschaft. Jedes Thier mit Lungen (mit nur seltener Ausnahme) schreit von seiner Geburt in gleicher Art angeregt. Das Geschrei bleibt aber, wiewohl die Modulationen, welche die Art des Gefühls od. des Bedürfnisses andeuten, bei ihnen Stellvertreter der Sprache. Doch wird diese Naturstimme der Thiere nicht bei allen S. genannt, nur von Eseln, Hirschen, Hafen, ja selbst Eulen, Kauzen, sagt man wohl sie schreien. Beim natürlichen S. der Menschen sind blos Selbstlauter vernehmbar, beim Kindergeschrei das E als einfachster u. zugleich als Mittellaut zwischen A u. I; im Geschrei Erwachsener aber werden alle Selbstlauter, nach Verschiedenheit der Veranlassung, warum sie schreien, vernehmbar: das A bei freudigem Geschrei u. lebhaftem Zuruf; das I bei Jammertönen u. wo Klagende in hinschwindender Kraft den Leiden sich überlassen; das O u. U, wo Reflexion u. Reaction sich in dem Gefühl mischt, welches das Geschrei erregte, Unmuth u. Erbitterung sich in Naturtönen verlauten läßt. Der Schrei An wird mehr bei plötzlichem Schmerz ausgestoßen. 2) Vom Thon, indem, wenn man ihn bei der Reinigung durchschneidet u. das Messer auf einen Stein stößt, dadurch ein kreischender Ton hervorgebracht wird.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 15. Altenburg 1862, S. 427.
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