Ubiquĭtät

[118] Ubiquĭtät (v. lat.), 1) das Überallgegenwärtigsein; 2) im kirchlichen Sinne die Gegenwart Christi im Abendmahl nach seiner menschlichen Natur überhaupt, u. nach seinem Leibe im Besondern, indem hiermit die Reformirten Theologen die Anschauung Luthers u. seiner Anhänger über diese Allgegenwart kurz auszudrücken suchten. Man ging hierbei von der Vereinigung der beiden Naturen in Christo (Communicatio naturarum) aus (s.u. Christus II. A) u. leitete daraus gegenüber der katholischen Transsubstantiationslehre, (s.d.) die reale Gegenwart des Leibes u. Blutes Christi ab. Diese Lehre, für welche sich keine bestimmten Zeugnisse aus der Schrift anführen lassen, findet sich bei den Kirchenvätern nicht u. selbst die im 4. u. 5. Jahrh. auftauchenden christologischen Fragen über die Natur Jesu werden mit dem Abendmahl in keine unmittelbare Verbindung gebracht, obschon dies bei der Art, wie man sich mit der Allgegenwart Christi beschäftigte, sehr nahe gelegen hätte, während die herantretende Lehre von der Transsubstantiation in der Scholastischen Zeit zur Beschäftigung mit der Gegenwart des Leibes Christi an verschiedenen Orten (Multi Präsenz) führte. In der Reformationszeit trat die Anschauung von der U. von der Zeit an in den Vordergrund, als Luther sich gegen die katholische Lehre vom Abendmahl erklärte u. der schon im Mittelalter von einzelnen Gelehrten vertheidigten Meinung sich zuneigte, daß sich durch die Consecration mit der fortdauernden Substanz von Brod u. Wein die neu hinzutretende Substanz des Leibes u. Blutes Christi verbinde (Consubstantialität), od. daß Christus im Abendmahl diese Elemente in sich aufnehme (Impanation), u. als er im weiteren Verlauf der Verhandlungen theils durch die abweichende Auffassung Melanchthons u. seiner Anhänger, theils durch die entgegenstehenden Ansichten der schweizerischen Theologen zur Erklärung über die reale Gegenwart Christi im Brod u. Wein gedrängt wurde. Hierbei hat er die verschiedensten Bilder zur Verdeutlichung der Sache gebraucht, jedoch immer den Gedanken festgehalten, daß im Abendmahl das Brod u. der Leib Christi u. der Wein u. das Blut Christi sacramentlich geeiniget sind u. sich durchdringen, nach Analogie der persönlichen Bereinigung der beiden Naturen Christi, ohne daß sich die Substanzen verwandeln, daß aber, um die gleichzeitige Existenz des Leibes Christi im [118] Himmel u. im Sacramente zu erklären, die Lehre von der Allgegenwart des Leibes Christi od. die Ubiquitätslehre vorausgesetzt werde, welche wieder in der Untrennbarkeit der Menschheit u. der Gottheit Christi ihre Begründung finde. Dagegen ist nach Zwingli Christi menschliche u. göttliche Natur in Einer Person vereinigt, jene ist an einen Raum gebunden u. kann darum nicht überall, also auch nicht beim Abendmahl sein, während diese allenthalben gegenwärtig ist. Diese Ansicht theilt auch Calvin, obschon er zugleich von einer lebendig machenden Kraft redet, welche in der menschlichen Natur Christi liegt u. dem Menschen beim Genuß des Abendmahles auf eine wunderbare Weise mitgetheilt werde. Melanchthon, welcher Anfangs die Ansichten Luthers theilte, konnte sich später mit der U. im Sinne desselben nicht befreunden, vielmehr nahm er eine Gegenwart der Person Christi für den gläubigen Christen bei der Abendmahlshandlung an, nicht aber eine reale Gegenwart seines Leibes u. Blutes im Brod u. Wein u. neigte sich damit mehr der Calvinischen Ansicht zu. Die Streitigkeiten über die U. setzten sich indeß immer fort, namentlich in Württemberg, wo Brenz mit großer Schärfe im Sinne Luthers die reale Gegenwart des Leibes u. Blutes Christi beim Abendmahl weiter entwickelte, was später von Andrea u. den schwäbischen Theologen fortgesetzt wurde, während die Melanchthonsche Schule in Wittenberg ihrem Lehrer treu blieb. Auch durch die Concordienformel konnte keine Einigung bewirkt werden. Namentlich erhoben sich im 17. Jahrh. Streitigkeiten zwischen den Gießener u. Tübinger Theologen, bei denen es sich indeß nicht blos um die U. in Verbindung mit dem Abendmahl handelte, sondern bei denen die christologischen Fragen überhaupt in den Vordergrund gestellt wurden. In der Spenerschen Zeit, welche dem praktischen Christenthum das Wort redete u. mehr mit den wirklichen Segnungen beim Genuß des Abendmahles sich beschäftigte, traten die mit großem, oft an Spitzfindigkeit grenzendem Scharfsinn behandelten Fragen u. Untersuchungen über die Christologie u. über die damit aufs Genaueste zusammenhängende U. zurück, man betrachtete mehr den historischen Christus nach der Totalität seiner Erscheinung, als daß man ihn auf speculativem Wege darzustellen suchte. Auch bei der confessionellen Richtung der Gegenwart haben sich die streng lutherischen Theologen, nicht so tief eingehend wie ihre Vorgänger im 16. u. 17. Jahrh., mit der U. beschäftigt, obschon dieselbe bei der Abendmahlslehre die Grundlage ihrer theologischen Anschauungen bildet, dagegen haben sich Einzelne unter ihnen, wie z.B. Kahnis u. Thomasius, von der Art, wie Luther die U. auffaßte, mehr od. weniger abgewendet, während die speculativen Theologen, wie Dorner, Weizsäcker u. And., bei ihren tief eingehenden christologischen Untersuchungen auf die U. zurückkamen u. hierüber ihre Anschauung von dem ethischen Entwickelungsproceß der Person des Gottmenschen zu Grunde legten.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 118-119.
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