Anatomie

[50] Anatomie. (Zeichnende Künste)

Bedeutet in der Mahlerkunst eine Kenntniß der äußeren und innern Theile des menschlichen Körpers, in so weit sie zu richtiger Zeichnung der Figuren in allerhand Stellungen und Bewegungen nothwendig ist. Es sind fürnehmlich zwey Umstände welche die Anatomie einem Zeichner nothwendig machen. Die Verhältnisse der Glieder ändern sich wegen der Knochen in etwas ab, je nachdem die Glieder eine Lage annehmen. So ist die Länge des Arms von der Schulter bis an die Spize des kleinen Fingers anders, wenn der Arm gerade ausgestrekt, als wenn er gebogen ist. Dieses kommt von den Gelenken der Knochen her, welche man deswegen genau kennen muß, um dem Arm in allen Wendungen das richtige Verhältniß zu geben. Von den Muskeln ist bekannt, daß sie bisweilen rund und wie aufgeblasen, bisweilen flach und schlaff sind, nachdem sie in würklicher Verrichtung oder in Ruhe sind. Daher kömmt es, daß eine Stelle des Körpers bisweilen erhoben und heraus stehend, oder flach und bisweilen vertieft ist. Hieraus ist klar, daß jede Stellung und jede Bewegung ihre eigene Verhältnisse und Umrisse hat, welche der Zeichner nicht treffen kann, wenn er nicht eine hinlängliche Kenntniß von der Lage der Muskeln, von ihrer Verrichtung und von der eigentlichen Beschaffenheit der Knochen hat. Fürnehmlich muß er die Anatomie des Gesichts genau studiren, weil darin eine Menge kleiner Muskeln sind, welche in den verschiedenen Affekten, die Gesichtszüge ändern.

Die Anatomie ist dem Zeichner um so viel nöthiger, da es nicht möglich ist, den Mangel derselben durch die academischen Zeichnungen nach der Natur zu ersezen. Es kommen gar viel Stellungen vor, welche man blos aus dem Kopfe zu machen hat, wobey man ohne genaue Kenntniß der Anatomie nothwendig in Fehler fällt. Der berühmte de Piles hat zum Gebrauch der Künstler eine kurze Einleitung zur Anatomie unter einem angenommenen Namen herausgegeben.1

Es ist aber hiebey den Künstlern zu rathen, daß sie ihre Kenntniß in diesem Stük nicht mißbrauchen. Einige haben, um ihre Wissenschaft in der Anatomie zu zeigen, die Muskeln so stark ausgedrükt, daß ihre Figuren wie geschunden aussehen. Es muß in der Zeichnung der Muskeln nichts übertriebenes seyn.

1Abregé d' Anatomie par Tortebat.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 50.
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