Kühn

[608] Kühn. (Schöne Künste)

Die Kühnheit ist nur vorzüglich starken Seelen eigen, die aus Gefühl ihrer Stärke Dinge unternehmen, die andre nicht würden gewagt haben. Deswegen ist unter allen Aeusserungen der Seelenkräfte nichts, das unsre Hochachtung so stark an sich zieht, als das Schöne und Gute, das mit Kühnheit verbunden ist. Selbst alsdenn, wenn ein kühner Geist in seinem Unternehmen zuviel Hinternis angetroffen hat, versagen wir ihm unsre Hochachtung nicht, wenn wir nur sehen, daß er seine Kräfte ganz gebraucht hat. Der Werth des Menschen muß unstreitig nur aus der Größe und Stärke seiner Seelenkräfte geschätzt werden. Dieses fühlen wir so überzeugend, daß wir uns ofte nicht enthalten können, in verwerflichen Handlungen, die mit Kühnheit unternommen worden sind, noch etwas zu finden, das wir hochachten; nämlich die Kühnheit selbst, in so fern sie eine Würkung des innern Gefühls seiner Kraft ist.

Darum gehöret das Kühne unter die größten ästhetischen Schönheiten, weil es Bewundrung und Hochachtung erwekt: zugleich aber hat es noch den höchstschätzbaren Vorzug, daß es auf die Stärkung und Erweiterung unsrer innern Kräfte abziehlt. Wie man unter Furchtsamen Gefahr läuft furchtsam zu werden; so wird man unter kühnen Menschen auch stark. Wenn ein Künstler von hohem Geist und großen Herzen einen Stoff bearbeitet, so wird man in Gedanken und Gesinnungen eine Kühnheit bemerken, die uns gegen die Höhe heranzieht, auf der wir den Künstler sehen.

Diese Kühnheit äussert sich sowol in der Beurtheilung, als in den Empfindungen. Menschen [608] von vorzüglichem Verstand und ausnehmender Beurtheilungskraft, sehen bey verwikelten und schweeren Umständen viel weiter, als andre; sie entdeken die Möglichkeit eines Ausweges, die andern verborgen ist, und dieses giebt ihnen den Muth Dinge zu versuchen, wo minder scharfdenkende, nichts würden unternommen haben. So geht es auch in Sachen, die auf Gesinnungen und Empfindungen ankommen. Ein Mensch von großer Sinnesart, entdeket in schweeren leidenschaftlichen und sittlichen Angelegenheiten, in seinen Empfindungen Auswege, die jedem andern verborgen sind, und darum unternihmt er Dinge die kein anderer würde gewaget haben.

Es giebt also eine Kühnheit des Genies, die sich in Erfindung ausserordentlicher Mittel zeiget, wodurch ein Unternehmen ausgeführt wird, das gemeinern Genien unmöglich scheinet. Diese Kühnheit des Genies hat Pindar besessen, der in vielen Oden einen Schwung nihmt, für den sich jeder andre würde gefürchtet haben. Er hat den Muth gehabt gemeine Dinge in dem höchsten Ton der feyerlichen Ode zu besingen, und ist darin glüklich gewesen. Da hält ihn Horaz auch für unnachahmlich. Es war auch etwas kühnes, daß Ovidius unternommen, den ungeheuren Mischmasch der Mythologie in den Verwandlungen im Zusammenhang vorzutragen. Aber er hat sich mehr durch Spitzfündigkeit und List, als durch Genie herausgeholfen. Diese Kühnheit des Genies zeiget sich auch in der Baukunst, da große Meister unmöglich scheinende Dinge glüklich ausführen. So war es ein kühnes Unternehmen des Fontana den bekannten Obeliskus unter Papst Sixtus dem V. aufzurichten.

Kühnheit des Urtheils zeiget sich in glüklicher Behauptung großer, aber allen Anschein gegen sich habender Wahrheiten; wovon uns Rousseau so manches Beyspiel gegeben hat. Daher entstehen also kühne Gedanken, dergleichen wir bey Pope und Haller nicht selten antreffen.

Kühnheit des Herzens zeiget sich in edler Zuversicht auf die Stärke seiner Gesinnungen und Begehrungskräfte. So zeigte Themistokles die höchste Kühnheit, daß er zu der Zeit, da Xerxes einen Preis auf seinen Kopf gesetzt hatte, sich an den Persischen Hof zu begeben und seine eigene Person seinem ärgsten Feind in die Hände zu liefern wagte. Von dieser Kühnheit des Herzens sind tausend Beyspiele in der Ilias, in den Trauerspielen des Aeschylus, im verlohrnen Paradies, in dem Meßias, und in Shakespears Trauerspielen. Aus der Kühnheit entsteht insgemein das Erhabene in Gedanken, in Gesinnungen und in Handlungen. Mithin gehört es zu dem wichtigsten ästhetischen Stoff.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 608-609.
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