Redekunst; Rhetorik

Redekunst; Rhetorik.

Die Theorie der Beredsamkeit. Unter allen schönen Künsten ist keine, darüber mehr und umständlicher geschrieben worden, als über diese; die Alten haben allen Geheimnissen der Kunst bis auf ihre verborgensten Winkel nachgespühret: und doch bin ich lang in Verlegenheit gewesen, als ich die eigentlichen Gränzen dieser Wissenschaft zu bestimmen, und das was sie zu lehren hat, in einer natürlichen Ordnung anzuzeigen, mir vornahm. Es kam mir höchst seltsam vor, nachdem ich die ausführlichen Werke eines Aristoteles, Cicero, Hermogenes und Quintilians gelesen hatte, daß ich mit mir selbst nicht einig werden konnte, zu bestimmen, was die Rhetorik eigentlich vorzutragen, und in welcher Ordnung sie ihre Materie am schiklichsten zu sezen habe. Ich fand endlich, daß diese Ungewißheit ihren Grund in dem noch nicht genug bestimmten Begriff der Beredsamkeit habe. Die Kunst der Rede zeiget sich in viererley Gestalten, die blos durch unmerkliche Grade von einander verschieden sind. Wir wollen- diese vier Gestalten durch die Benennungen der gemeinen Rede, der Wolredenheit, der Beredsamkeit und der Poesie von einander unterscheiden, und denn anmerken, daß, obgleich jedermann fühlt, es sey ein Unterschied unter diesen vier Gestalten, die die Rede annihmt, es dennoch unmöglich sey, die Art jeder Gestalt genau zu bestimmen. Es ist nöthig, daß ich dieses hier etwas umständlich entwikle.

Zu jeder Rede gehören nothwendig zwey Dinge; Gedanken und Worte.1 Wenn wir nun sezen, daß vier Menschen über einerley Sache reden, der eine in dem Charakter der gemeinen Rede, der andere mit Wolredenheit, der dritte, als ein würklicher Redner, und der vierte, als ein Dichter; so muß sich nothwendig jeder vom andern durch Gedanken und durch Worte unterscheiden; jede der vier Reden muß ihren besondern Charakter, ihre eigene Art haben. Diese müssen wenigstens einigermaaßen bestimmt werden, ehe man über eine dieser vier Gattungen der Rede, Regeln und Lehren geben kann.

Da nun die Arten der Dinge, die blos durch Grade von einander verschieden sind, nie bestimmt können bezeichnet werden,2 so geht es auch hier nicht an, und man muß sich damit begnügen, daß man nur das, was in jeder Art vorzüglich merklich ist, zum Abzeichen angebe. So könnte man der gemeinen Rede den Charakter zuschreiben, daß sie ohne alle Nebenabsichten die Gedanken, so wie die Gelegenheit sie in der Vorstellungskraft hervorbringt, geradezu, und blos in der Absicht verständlich zu seyn, ausdrüke. Die Wolredenheit könnte von der gemeinen Rede dadurch ausgezeichnet werden, daß sie sucht ihren Gedanken und dem Ausdruk derselben eine angenehme und gefällige Wendung zu geben; den Charakter der Beredsamkeit könnte man darin sezen, daß sie nur bey wichtigen Gelegenheiten, in der Absicht die Gedanken oder Empfindungen andrer Menschen nach einem genau bestimmten Zwek zu lenken, eine ganze Reyhe von Gedanken diesem [959] Zwek gemäß erfindet, anordnet und ausdrükt. Die Poesie würde sich endlich dadurch von den andern Arten auszeichnen, daß sie Gedanken und Ausdruk in der Absicht ihnen den höchsten Grad der sinnlichen Vollkommenheit und Lebhaftigkeit zu geben, bearbeitet.

Sind dadurch die Gränzen jeder Art nicht so genau bezeichnet, daß sie nicht hier und da ungewiß und unkenntlich werden; so liegt der Grund davon in der Natur der Sache selbst. Man muß sich mit confusen und zum Theil unbestimmten Begriffen behelfen, oder den Vorsaz, die viererley Arten der Reden von einander zu unterscheiden, völlig fahren lassen.

Betrachtet man nun die Kunst der Rede überhaupt, und in allen ihren Arten zugleich, so begreift ihre Theorie die Wissenschaft des Denkens und des Sprechens, beyde in ihrem ganzen Umfange. Denn wie Horaz sagt, der Grund alles Sprechens ist das Denken: Scribendi sapere fons est. Wollte man also die Rhetorik, als eine Wissenschaft des Sprechens überhaupt ansehen, so müßte sie auch das klare, richtige, deutliche, nachdrükliche, schöne, ausführliche Denken lehren, und hernach gar alles was zur Kunst des Ausdruks gehört, von den ersten Elementen der Grammatik, bis auf das, was die Sprache vom Enthusiasmus der Poesie und des Gesanges annihmt, ausführen.

Wieviel nun von dieser sich erstaunlich weit erstrekenden Wissenschaft aller Wissenschaften, für den besondern Gebrauch des Redners herauszunehmen sey, ist von Niemand genau bestimmt worden.

Jeder der über die Kunst schrieb, gab ihr nach Gutdünken mehr oder weniger Ausdähnung. Es scheinet, daß die ältesten Rhetoren in Athen bey ihrem Unterricht fast ganz auf die Sachen, oder auf das Denken gesehen, und nicht nur die ganze Dialektik, sondern auch noch die Staatswissenschaft, als Theile der Rhetorik angesehen haben. Hingegen kam das, was den Ausdruk betrift, in den ersten Zeiten weit weniger in Betrachtung. In den ganz späthern Zeiten hingegen findet man die griechischen Rhetoren fast allein mit dem Ausdruk beschäftiget, über den sie sich bis auf die ersten Grundregeln der Grammatik herablassen.

Wollte man nun der Rhetorik den Umfang geben, der sowol die früheren, als die spätheren Gränzen an den beyden äußersten Seiten in sich begriffe; so würde sie, wie gesagt, fast zu einer unermeßlichen Wissenschaft werden. Um ihr nähere und ihr eigene Schranken zu sezen, muß man über die Res, oder das Denken, das, was der Beredsamkeit nicht eigen ist, voraussezen, und annehmen, der Redner habe Kenntnis der Sachen, worüber er zu sprechen hat, und ihm blos gute Grundsäze geben, wonach er das, was er bey jeder Gelegenheit anzubringen hat, aussuchen und vorbringen soll. Und so muß man, in Absicht auf das Formale seiner Kenntnisse voraussezen, daß er die Grundregeln der Logik, es sey durch bloße Uebung, oder durch ein förmliches Studiren, besize; daß er wisse, was das sey, eine Sache sich deutlich oder undeutlich vorstellen; richtig oder unrichtig urtheilen, wahre oder betrügerische Schlüsse zu machen u. d. gl. Dieses aber vorausgesezt muß ihm in der Rhetorik Anweisung gegeben werden, wie in besondern Fällen diese Kenntnisse aus der Vernunftlehre anzuwenden seyen.

Da ferner die gemeine Rede noch nicht als eine der schönen Künste betrachtet wird, so muß auch das, was hiezu, sowol in Ansehung der Sachen, als des Ausdruks gehöret, von der Rhetorik ausgeschlossen werden. Diese muß man lediglich der Grammatik und dem allgemeinen Unterricht im Begreifen und Denken überlassen.

Die Wolredenheit aber3 wird schon als ein Theil der Kunst betrachtet. Da sie aber vornehmlich nur noch auf einzele Redesäze und Perioden geht, und sich nicht auf förmliche Reden einläßt, so sollten die Lehren über Wolredenheit einen besondern Theil der Rhetorik ausmachen. Dieser würde sich darauf einschränken, daß er lehrte, wie einzele Begriffe und Gedanken ästhetisch auszubilden, und dem Charakter ihrer Ausbildung gemäß auszudrüken seyen. Man würde da z.B. zeigen, was ein starker, ein naiver, ein wiziger, ein angenehmer, rührender, beißender, großer, erhabener Gedanke sey; und wie der Ausdruk durch Figuren, Tropen und andern Wendungen, auch durch Ton und Klang dem Charakter des Gedankens gemäß zu treffen sey. Alles dieses würde also einen besondern Theil der Theorie ausmachen, in welchem es noch gar nicht um die Bildung des eigentlichen Redners zu thun ist. Dafür wär also ein zweyter Theil der Rhetorik nothwendig, in welchem aber der beschriebene erste Theil, so wie in diesem die Grammatik, vorausgesezt werden müßte. [960] Dieser Theil würde den eigentlichen Redner zu seinem Augenmerk haben, blos in so fern er förmliche Reden, deren Art im vorhergehenden Artikel bestimmt worden, zu verfertigen hat. Dieser Theil enthielte blos die Theorie solcher Reden. Der Plan dieses Theiles wäre nun nach den angenommenen Einschränkungen leicht zu machen.

Nämlich, zu jeder Rede gehören, wie viele der Alten richtig angemerkt haben, folgende Dinge. 1. Die Erfindung der Gedanken; 2. die Anordnung; 3. der Ausdruk derselben; 4. in gewissen Fällen die Einprägung der Rede in das Gedächtnis, und 5. der mündliche Vortrag derselben. Wenn diese Dinge vollkommen sind, so ist es auch die Rede.

Also hat die Rhetorik dem Redner Anweisung zu geben, wie er als Redner in jedem dieser Punkte zur Vollkommenheit gelange. Dabey muß man ihn aber in Ansehung jedes besondern Punkts, auf der einen Seite von dem gemeinen Sprecher, und von dem, der nur Wolredenheit sucht; auf der andern Seite von dem Dichter, genau unterscheiden. Man muß über jeden Punkt das, was der Redner mit jenen gemein hat, voraussezen und übergehen, und das, was der Dichter für sich allein voraus hat, nicht berühren, sondern gerade das betreiben, was dem Redner eigen ist.

Nachdem man ihm also so bestimmt, als es sich thun läßt, gezeiget hat, wodurch seine Rede sich von jeder andern auszeichnet, und was sie eigenes hat, muß auch bey jedem zur Rede gehörigen Punkt, blos über dieses ihm eigene, gesprochen werden. In Ansehung der Erfindung, oder Auswahl der Gedanken, hat man nicht nöthig ihm die Logik zu wiederholen, die ihn lehret, wie er zu klaren oder zu deutlichen Begriffen, zu einem richtigen Urtheil und zu gründlichem Schlüßen gelange; noch weniger därf man ihn in allen Wissenschaften unterrichten, damit er eine Kenntnis der Sachen, über die er zu reden hat, bekomme; dieses hat er mit jedem andern Menschen, der zu reden hat, gemein. Man muß also voraussezen, daß der Redner gelernt habe, sich bestimmte, klare oder deutliche Begriffe von Dingen zu machen, daß er richtig zu urtheilen, und zu schließen im Stande sey, daß er Kenntnis von den Dingen habe, über die er reden will. Aber wie er als Redner, wo es nöthig ist, Begriffe, Urtheile und Schlüsse, auf die ihm eigene Art zu bilden habe, und wie er über seine Materie, das, was er, als Redner zu sagen hat, erfinden, oder wählen soll, muß die Rhetorik ihn lehren. Der Redner hat eine eigene Art andern Begriffe beyzubringen, und eine eigene Art Urtheile zu bestätigen, und Säze zu erweisen. Dabey allein hält sich die Rhetorik auf.

Eben so verfährt sie über die andern zur Rede gehörigen Punkte. Wann z.B. vom Ausdruk die Red ist, so braucht man ihm nicht zu sagen, wie er grammatisch rein, und verständlich sprechen soll; man hat nicht nöthig ihm alle Figuren und Tropen der Rede, alle Formen des Redesazes vorzuzählen und zu erklären, diese Kenntnisse hat er mit dem, der die Kunst der gemeinen Rede, und dem der blos die Wolredenheit gründlich verstehen will, gemein. Aber was für Figuren und Tropen ihm bey Gelegenheit vorzüglich dienen, wie er die ihm eigenen Perioden zu bearbeiten habe; was zu dem eigentlichen rednerischen oder oratorischen Stil und Ton erfodert werde, und wie er überall den schiklichsten treffen soll, dies alles gehört in die Rhetorik. Und so müßte jeder der fünf angezeigten Punkte für den Redner besonders behandelt werden. Dieses ist, wie ich glaube hinlänglich, um den Weg zu zeigen, wie man zu einem gründlichen und bestimmten Plan der Redekunst kommen könne.

Wer dieses Feld aufs neue nach einem durch die angegebenen Grundsäze bestimmten Plan zu bearbeiten Lust hätte, der würde in dem, was Aristoteles, Dionysius von Halicarnaß, Hermogenes, Longinus, der Verfasser des kleinen Werks, das insgemein den Namen des Demetrius Phaleräus trägt, und denn in den verschiedenen Werken des Cicero über die Theorie der Kunst, und der fürtreflichen Institutione Oratoria des Quintilians, beynahe jeden Punkt gründlich behandelt finden. Der lezte der angeführten Schriftsteller ist allein, beynahe vollständig; von den andern hat jeder wenigstens einige Punkte mit großer Gründlichkeit behandelt. Also käm es hauptsächlich nur auf ein wolüberlegtes Zusammentragen, der schon vorhandenen Lehren an.

Schon lange vor den Zeiten des Sokrates waren Rednerschulen in Athen; weil seit der Zeit, da sich die Regierungsform dieses Staates gegen die Demokratie lenkte, die Beredsamkeit das sicherste Mittel war, sich zu den höchsten Staatsbedienungen heraufzuschwingen, und den großen Einfluß auf öffentliche Geschäfte zu haben. Alles, was in Athen [961] vornehm war, oder groß werden wollte, suchte sich in der Beredsamkeit hervorzuthun, und dieses gab den Philosophen Gelegenheit Schulen der Beredsamkeit zu eröffnen. Darin wurd anfänglich nicht sowol die Kunst der Rede, als die Staaswissenschaft und die Philosophie gelehret, die den künftigen Rednern Kenntnis der Materie, worüber sie zu reden, und der Menschen, auf deren Gemüther sie Eindruk zu machen hatten, verschaften. Allmählig aber wurden denn auch die dem Redner besonders nöthigen Stüke, mit zum Unterricht gezogen. Und nachdem endlich das Volk die Freyheit verlohren, und man nicht mehr öffentlich über Staatsangelegenheiten zu sprechen hatte, hielte sich die Rhetorik vorzüglich bey der Kunst des zierlichen Ausdruks auf. Man kann in dem III Buch des Quintilians sehen, was für Männer in Griechenland, und hernach in Rom sich durch Schriften über diese Kunst, am meisten hervorgethan haben.

Die Neuern haben die Theorie dieser Kunst ohngefehr da gelassen, wo die Alten stille gestanden. Wenigstens wüßte ich nicht, was für neuere Schriften ich einem, der den Cicero und Quintilian studirt hat, zum fernern Studium der Theorie, empfehlen könnte.

1Omnis sermo - habeat necesse est et rem et verba. Quint. L. III. c. 3. §. I.
2S. Gedicht. S. 433.
3S. Beredsamkeit.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon