Die Taubstummen-Institute

[72] Die Taubstummen-Institute, d. h. diejenigen Lehr-Anstalten, in welchen Taubstumme Unterricht erhalten, betrifft, so verdanken sie ihren Ursprung den Bemühungen einer kleinen Anzahl von Männern, die aus eignem Antriebe Muth und Geduld genug besaßen, mit einzelnen Taubstummen sich zu beschäftigen. Allein nur erst in der zweiten Hälfte, besonders in dem letzten Viertel des 18ten Jahrhunderts, war man ernstlich darauf bedacht, diese Institute wirklich zu begründen. Daß es nicht früher geschah, daran war nicht die geringe Anzahl der Taubstummen Ursache, da man deren 150 bis 200 auf eine Million Menschen rechnet – eine Angabe, die vielleicht noch zu niedrig ist, indem man gegen Ende des 18ten Jahrhunderts die Anzahl derselben in Frankreich allein auf 12000 setzte – man sah vielmehr dieselben im Allgemeinen für Unglückliche an, bei denen keine Hülfe anwendbar sei; und da anfangs nur hier und da ein einzelner Mann an einem, oder höchstens ein paar Individuen, in der Stille einen Versuch machte: so blieben diese Lehren und bei dem Mangel der Lehrer auch die große Anzahl der Hülfsbedürftigen unbekannt. [72] Mancher Schwachkopf sah sogar die Bemühungen, die man auf einen Taubstummen wendete, um ihn dahin zu bringen, sich andern Menschen verständlich zu machen, als einen Eingriff in die Rechte des Schöpfers an! Um desto mehr verdienen daher diejenigen Männer bekannter zu werden, die zu diesem Unterrichte die Bahn brachen. Als ersten Taubstummenlehrer nennt man einen Spanischen Benedictinermönch, Peter Pontius, zu Ende des 16ten Jahrh., der auch der eigentliche Verfasser der Schrift sein soll, die Paul Bonnet, den man für den ersten Schriftsteller über den Taubstummen-Unterricht hält, im Jahr 1620 in Spanischer Sprache herausgab. Indeß scheint selbst der Titel dieser Schrift zu beweisen, daß dieser Unterricht mehr auf die Stummen überhaupt, als auf die Taubstummen berechnet gewesen sei. Ob dem Landsmann von beiden vorigen, Emanuel Ramirez de Carion, der, wie man sagt, den taubstummgebornen Savoyischen Prinzen Emanuel Philibert von Carignan reden lehrte, der Ruhm gehört, die erste glückliche Probe an einem Taubstummen geliefert zu haben, scheint bei dem Mangel sicherer und bestimmter Nachrichten ebenfalls ungewiß. Gewisser ist es, daß William Holder, ein Englischer Theolog († 1696) im Jahr 1659 einen jungen taub- und stummgebornen Edelmann, Alexander Popham, sprechen lehrte, ob ihm schon Johann Wallis, Professor der Mathematik zu Oxford († 1703) diese Ehre streitig zu machen suchte. Zu Ende des 17ten Jahrhunderts beschäftigte sich mit dem Taubstummen-Unterricht besonders ein Freiherr von Helmont und Johann Conrad Amman, ein Arzt aus Schafhausen, der aber zu Amsterdam lebte. Durch ihre Schriften wurde man auch in Deutschland auf diesen Unterricht aufmerksamer. Ueberhaupt wurde er seit dem Anfange des 18ten Jahrhunderts in Deutschland und in andern Ländern mit mehrerem Eifer betrieben, und mehrere Taubstummenlehrer machten theils ihre glücklichen Versuche, theils ihre Lehrart bekannt. Allein noch beruhte dieser Unterricht auf keinen festen Grundsätzen, und glückliche Versuche wurden wohl mehr an hörend Stummen, oder taub oder stumm gewordenen, als an eigentlichen, von Geburt [73] an, Taubstummen gemacht. Erst Samuel Heinike1) und der Abt lʼEpée (s. Th. V. S. 258.) verdienen den Ruhm, diesen Unterricht wissenschaftlich begründet zu haben. Aber beide schlugen, jeder unabhängig von dem andern, seinen Weg ein. Man nennt zwar gemeiniglich nur den Letzteren als den wahren Erfinder des Taubstummen-Unterrichts; allein offenbar mit Unrecht. Denn schon drei Jahre vorher (1773), ehe lʼEpée von seinem Unterrichte öffentlich Nachricht gab, machte Heinike schon so viel Aufsehen als Taubstummenlehrer, daß der Pfarrer zu Eppendorf gegen diese neue Lehrart predigte. Allein der vortheilhafte Ruf, der sich von der letztern verbreitete, und der durch sein (leider bis jetzt noch unvollendetes) Werk: Beobachtungen über Stumme und über die menschliche Sprache, 1r Theil (Hamburg 1778. 8.) noch mehr begründet wurde, bewirkte, daß Heinike noch im Jahr 1778 vom Churfürsten von Sachsen einen Antrag erhielt, in Leipzig ein Institut für Taubstumme zu errichten, das bekanntlich noch jetzt unter Direction seiner Witwe und August Friedrich Petschkeʼs fortdauert, und sowohl durch die aus demselben entlassenen brauchbaren Subjecte, als auch durch die Zeugnisse verdienstvoller und sachverständiger Männer rühmlich bekannt ist. Es werden in dieses Institut taubstumme Personen und solche, die Sprachgebrechen haben, von ihrem achten Jahre an aufgenommen, lernen deutlich und mit Verstande laut sprechen, lesen, Briefe schreiben und andere schriftliche Aufsätze verfertigen, erhalten auch Unterricht in der Religion, im Sprechen und den nöthigsten Wissenschaften. – Daß lʼEpéeʼs Institut, welches anfänglich in Bourdeaux war, einen größern Ruf erhielt, als das zu Leipzig, war aus vielen Ursachen sehr begreiflich LʼEpée legte zu Paris ein größeres Institut [74] an, das die Stiftung mehrerer andern bewirkte. Im Jahr 1778 kam Kaiser Joseph II. nach Paris, besuchte dasselbe, und schickte nach seiner Zurückkunft nach Wien einen dasigen Geistlichen, Friedrich Stork, nach Paris, um bei lʼEpéeʼn zu lernen, und Maria Theresia errichtete, da Stork nach Wien zurückkam, ebenfalls daselbst ein Institut, zu dessen Vorsteher Stork ernannt wurde. Man fing nun auch an mehreren Orten an, durch dergleichen Lehranstalten für die Taubstummen zu sorgen, und befolgte bei deren Unterrichte lʼEpées Lehrart. Allein auch die von Heinikeʼn blieb außer Leipzig nicht vergessen. Sein Schwiegersohn, D.ʼEschke, legte, mit Erlaubniß des Königs von Preußen, 1789 in Berlin ein Privatinstitut an, das nachher nach Schönhausen, 1798 aber wieder nach Berlin verlegt und in eine öffentliche Lehranstalt verwandelt wurde. Das neueste Taubstummen-Institut ist im vorigen Jahre zu Kopenhagen errichtet worden. – Noch fehlt es indessen an zweckmäßigen Versorgungsanstalten für die unterrichteten unbemittelten Taubstummen.


Fußnoten

1 Er war zu Reitschütz bei Weißenfels 172 5/6 geboren, kam anfangs unter die Chursächsische Leibgarde nach Dresden, legte sich aber dabei auf die Wissenschaften und studirte seit 1757 zu Jena. Nachdem er hierauf 10 Jahre lang Hofmeister im gräflich Schimmelmannischen Hause zu Hamburg gewesen war, erhielt er das Cantorat zu Eppendorf bei Hamburg. Von hier kam er nach Leipzig, wo er am 30sten April 1790 als Director des churfürstlich Sächsischen Taubstummen-Instituts starb.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 6. Amsterdam 1809, S. 72-75.
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