Ketzer

[595] Ketzer oder Häretiker heißen nach dem kirchlichen Sprachgebrauche alle Die, welche von der als rechtgläubig anerkannten Lehre, besonders in den Hauptartikeln, abweichen und nach willkürlicher Wahl eigne Lehren aufstellen. Nach dieser Bedeutung des Worts hat jede Religionspartei, haben die Juden wie die Mohammedaner ihre Ketzer gehabt und selbst das Christenthum erscheint in seinem ersten Entstehen als eine Ketzerei des Judenthums. In der christlichen Kirche mußten gleich anfangs Ketzereien entstehen durch das Abweichende der religiösen Denkungsweise, an der Juden und Heiden, auch nachdem sie Christen geworden waren, theilweise noch festhielten. Je mehr aber das Christenthum in das Juden- und Heidenthum zurückzufallen drohte, um so eifriger wurde das Streben, dasselbe gegen diese Gefahr zu bewahren. So entstand im heftigen Kampfe mit fremden Lehren und Meinungen, deren Anhänger die zahlreichen Ketzerfamilien der ersten christlichen Jahrhunderte bilden, die Idee einer rechtgläubigen Kirche, die, nachdem sie die öffentliche Anerkennung des Staats erlangt hatte, eine Glaubensgesetzgebung wurde und unter ihrem Schutze jeden Widerspruch gegen die eigne Unfehlbarkeit in Glaubenssachen unterdrückte. Wie sich von jetzt an die Zahl der Ketzer verringerte, so änderten sich auch die Maßregeln, die man bisher gegen sie beobachtete. Hatten die Apostel die Gläubigen ermuntert, für die Irrenden zu beten, war es den Christen des 2. und 3. Jahrh. genug, die Feinde der Wahrheit zu eigner Strafe und Anderer Warnung auf eine feierliche Weise aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen und, wenn sie in dieselbe wieder aufgenommen zu werden wünschten, dieselben einer strengen Buße zu unterwerfen, so verfielen jetzt die Ketzer den Gesetzen des Staats, die ihnen Besitzthum und Ehre raubten und sie des Bürgerrechts verlustig erklärten. Der erste Ketzer, dessen Blut nach förmlicher rechtlicher Entscheidung vergossen wurde, war der 385 hingerichtete Priscillian. Wenn die Unwissenheit des Mittelalters für die geistige Thätigkeit der Ketzer nicht günstig war, so hatte doch die Kirche auf sie ein wachsames Auge und selbst der Ruhm eines Abälard (s.d.) durfte sich nicht ungestraft über die Kirchenlehre erheben. Die gegenkirchliche Richtung der Katharer (s.d.), wovon das Wort Ketzer abgeleitet wird, und der Albigenser und Waldenser (s.d.) im 12. und 13. Jahrh. führten endlich die Kirche in ihrer selbstangeeigneten Glaubensunfehlbarkeit zur Erfindung der Ketzergerichte oder Inquisition (s.d.), womit die religiöse Unduldsamkeit zugleich aufs höchste und betrübendste gesteigert wurde. Obschon die Protestanten und Reformirten hierin mildern Grundsätzen folgten, so hat es doch auch unter ihnen nicht an Äußerungen eines gleich verwerflichen Religionseifers gefehlt, wie dies Servet's (s. Calvin) und Crell's (s.d.) Hinrichtung genugsam beweist. Erst mit dem Fortschreiten der Aufklärung, welche freilich auf der andern Seite auch oft Gleichgültigkeit gegen alle Religion mit sich führt, hat der Ketzerhaß seine Macht in den Gemüthern verloren und es gilt mit Recht als ein Zeichen mangelnder Einsicht in das Wesen der christlichen Religion, wenn sie statt der Liebe, die sie gegen alle Menschen empfiehlt, die eignen Glaubensgenossen zu hassen und zu verfolgen lehren soll.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 595.
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