Rechtsgesetz

[639] Rechtsgesetz kann jede Bestimmung des positiven Rechts genannt werden, welche etwas für Recht oder auch Unrecht erklärt, in der Philosophie wird aber unter Rechtsgesetz das höchste Rechtsgesetz verstanden, welches die Vernunft über die Verhältnisse freier vernünftiger Wesen unter sich aufstellt und das die durchgängige Harmonie unserer Bestrebungen und Handlungen zum Zwecke hat. Es fodert deshalb von Jedem, von seiner Freiheit keinen andern Gebrauch zu machen, als einen solchen, welcher den Freiheitsgebrauch aller Andern nicht stört. Dadurch ist ein Jeder allen Andern gegenüber berechtigt und verpflichtet, und da die Erfüllung dieses höchsten Grundsatzes des Rechts zu den nothwendigen Bedingungen für die Erreichung der sittlichen Bestimmung des Menschen gehört und ein äußeres Rechtsverhältniß angeht, welches trotz des widerstrebenden Willens Einzelner, durch gemeinsames Wirken unter Menschen errichtet werden soll, so kann die Erfüllung seiner Pflichten auch durch Zwang verlangt werden, d.h. der äußere Freiheitsgebrauch Anderer darf so beschränkt werden, wenn sie es nicht aus eignem Antriebe thun, daß eines Jeden eigne persönliche Würde dabei bestehen kann; auch wird in der That blos durch einen gesetzlich bestimmten und im Nothfall durch Vereinigung der Kräfte zu bewirkenden Zwang ein äußeres Rechtsverhältniß dauernd möglich. Das höchste Rechtsgesetz ist jedoch nur im Allgemeinen als Richtschnur des rechtlichen Handelns zu betrachten und nimmt auf die wirklichen Bestrebungen und Handlungen, welche den äußern Freiheitsgebrauch der Menschen ausmachen, keine Rücksicht. Diese sind vielmehr, gleich den Gegenständen, auf welche sich die rechtliche Wirksamkeit des Menschen erstrecken kann, unendlich mannichfaltig und gehören der Erfahrung an. Daß es die menschliche Glückseligkeit sehr befördern würde, wenn alle Menschen durchaus rechtlich gegeneinander handeln wollten, kann nicht zweifelhaft sein, allein unmittelbare Rücksicht auf menschliche Vollkommenheit und Glückseligkeit kann das Rechtsgesetz nicht nehmen. Es wird Niemand den Handwerksmann einer Rechtsverletzung zeihen, welcher durch bessere Arbeit die Kundschaft eines Andern an sich zieht und jenen dadurch um den größern Theil der Nahrung bringt, oder etwa verlangen, daß er um jenes schlechten Arbeiters willen auch geringe Arbeit liefern und denselben dadurch seine Kunden erhalten helfen solle. Denn der bessere Arbeiter hat sich keines Eingriffs in den Freiheitsgebrauch des Andern schuldig gemacht und es ist im Leben nur zu häufig auch der rechtliche Vortheil des Einen mit Verlusten für Andere verknüpft.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 639.
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