Euripides

[30] Euripides, Der Zeit und dem dichterischen Range nach der dritte unter den drei großen griechischen Tragikern. An dem Tage, wo Euripides geboren, 480 vor Chr., focht Aeschylus bei Salamis, und der Jüngling Sophokles tanzte um die Trophäen. In seinen frühern Jahren sollte er Athlet werden; doch bald erwachte in ihm eine weit lebhaftere Neigung zu der Malerei, Philosophie und Poesie. Seine Tragödien fanden bei dem Publikum die günstigste Aufnahme; es gelang ihm sogar mehrmals, vor Sophokles den Preis zu gewinnen. Weil aber Euripides die frühere ideale Höhe des griechischen Trauerspiels zur gemeinen Wirklichkeit herabzog, und, wenn Aeschylus und Sophokles die Menschen vergöttlichten, er die Götter vermenschlichte, so mußte er oft trotz der hohen Gunst des Publikums harte Urtheile erfahren. Vor Allem machte[30] ihn der Spötter Aristophan es in seinen Komödien durch parodirende Anspielungen lächerlich. Wenn Aristoteles den Euripides den tragischesten Dichter nennt, so hatte er vielleicht besonders die Wahl seiner Stoffe und die unglücklichen Katastrophen im Sinne. Es fehlt dem Euripides der erhabene Schwung des Aeschylus und die vollendete Schönheit des Sophokles; dagegen hat er bei großen Fehlern unendlich viel einzelne Schönheiten. Seine Hauptgebrechen sind eine oft in übertriebene Breite ausartende Schwatzhaftigkeit, eine Hinneigung zu philosophischen Discussionen und Rhetorkünsten, ein zu großer Sentenzenüberfluß und ein Herabziehen großer Charaktere in das Gebiet der Schwachheit und Alltäglichkeit, durch welche Eigenschaften er als Brücke erscheint, die zu der Komödie hinüberleitet. Doch glich ihm keiner seiner beiden Vorgänger in der Kunst, Rührung zu erwecken; in seiner Hekuba, Alcestis, Medea, im Orest, Hippolytos u. s. w. finden sich Stellen, die durch ihre zarte elegische Weichheit die tiefste Seele bewegen. Meisterhaft sind seine Prologe, doch locker seine Plane, schwankend seine Charaktere, dagegen kunstreich seine Dialoge und hochpoetisch seine Chöre. Bei dem König Archelaus in Macedonien fand er 407 vor Chr. einen tragischen Tod; er wurde von Hunden zerrissen. Die Athenienser errichteten ihm ein prachtvolles Cenotaphium mit der Inschrift: »Ganz Griechenland ist des Euripides Denkmal; Macedoniens Erde deckt nur seine Gebeine.«

E. O.

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Damen Conversations Lexikon, Band 4. [o.O.] 1835, S. 30-31.
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