Hyatt, Sophie

[364] Hyatt, Sophie. In Newstead-Abbey, dem romantisch-düstern Felsenschlosse Lord Byron's, wo der erhabene Dichter jenes giftige Gefühl der Vereinsamung und des Hohnes einsog, bewohnte »die kleine weiße Dame,« wie die Gegend sie nannte, das Eckstübchen eines abgelegenen Pachthofes. Das Schloß war nach Byron's Tode in den Besitz des Obersten Wildman gelangt, dessen Verehrung für den Sänger des »Childe Harold« ihn alle die Liebhabereien und Einrichtungen des vorigen Eigenthümers erhalten und aufbewahren ließ. Auf einem Abendspaziergange fand er die kleine Frauengestalt. Höchst reizbaren Gemüthes, taubstumm, von hinfälligem Körperbau, hatte Sophie Hyatt vor Jahren schon ihre Eltern und bald darauf auch die Unterstützung ihres einzigen Bruders verloren, und eine verzehrende Schwermuth, mit welcher sie Byron's dämonische Phantasiegebilde liebte und die sie wie eine tödtliche Krankheit im Herzen hegte, nagte an ihrem Leben nicht nur, sondern auch an ihrem Geiste, der sich allmälig mehr und mehr umdunkelte. Schweigsam und menschenscheu, war nur Boatswain, Byron's großer neusundländischer Hund ihr stummer Begleiter, wenn sie gespenstergleich allnächtlich den Umzug hielt durch die[364] Mauern und Pfade, die sein Andenken ihr verklärte und die ihr Ziel jedes Mal bei dem Denksteine fanden, den er zwischen den Ruinen der Kapelle hatte aufrichten lassen. An diesem Altare oder im Schatten des Baumes, in dessen Rinde seine Hand den unsterblichen Namen eingeschnitten hatte, fand man sie oft zusammengesunken, kniend, weinend. Sie hatte den Lord nie gesehen, seine Dichtergestalt aber war als poetische Entzückung vor ihre Seele getreten und hatte diese zu der eigenen einsamen Verzweiflungslust emporgehoben; ihre Sinne und Gedanken waren bei ihm, ihre Lieder von dem Hauche seiner Todesschmerzen durchweht. Das Ende der »kleinen weißen Dame,« von der Washington Irving im 2. Bande seiner »Miscellaneen« erzählt, ist so rührend, als ihr Leben. Ihr Bruder war in Amerika gestorben und die Eröffnung seines Testaments machte für Sophie eine Reise nach London nöthig. Nach vielen Jahren stiller, geistesirrer Melancholie verläßt sie den einzig geliebten Ort und gelangt nach Nottingham: im Begriff, nach dem Posthause zu gehen, geräth sie unter die Räder eines Wagens, der Zuruf der Leute bleibt von der Taubstummen unvernommen und sie stirbt ohne Seufzer.

T.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 5. [o.O.] 1835, S. 364-365.
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