Ukraine

[253] Ukraine, bis auf Peter den Großen der Zankapfel zwischen Rußland und Polen, hieß früher die Landschaft in Südrußland, zu beiden Seiten des Dniepers, welche die jetzigen Gouvernements Podolien, Kiew, Pultawa und Slobods umfaßt und von den Kosaken bewohnt wird. Der Dnieper ist ein Ganges der altpolnischen Volkspoesie. Für alles hatten die alten Ukrainer ein Lied, für jede frohe Empfindung einen Freudenton, für jeden Schmerz einen Klagelaut. Aber das rege Wesen des Steppenlebens mochte zugleich auf den ukrainischen Gesang früh eine gewisse Wehmuth hauchen, die vielleicht ursprünglich vom Gefühl der Verlassenheit herrührte, und mit der Zeit zur Volksstimmung und zum Grundton aller polnischen Lieder wurde. Was dem Araber der orientalische Himmel, die Sandwüste, das Kameel, die Oase und die Quelle sind, das sind noch jetzt dem Ukrainer seine Steppen und Weiden, seine Fluren und Flüsse, sein Pferd und die Hütte des Liebchens auf der fernen Flur. Jenen und diesen begeistert das Weite der Natur, und zum Bedürfniß wird der Gesang, indem die Seele zerfließt und sich wieder findet. Noch heut zu Tage findet man hier, wie in Podolien, die Troubadours der Slaven, die Teorbanisten, so genannt von dem Saitenspiel Teorban. Zu gewissen Zeiten wandern sie von Dorf zu Dorf; meist sind sie auch sehr gewandte Tänzer, und tanzen singend und schlagend den Teorban zur Belustigung des Edelhofes. Ein anderer poetischer Zauber der U liegt in ihren uralten Erinnerungen der Mongolenkriege. Zahlreiche bemooste Steine bergen[253] an den Kreuzwegen halbverborgene Sagen aus jenen blutigen Jahrhunderten, und düstere Schlachthügel (Mogita) ragen an den Wegen hervor und rufen das gräßliche Andenken der Tamerlane zurück.

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Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 10. [o.O.] 1838, S. 253-254.
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