Der Staat und die Geschlechtsverbände

[12] 6. Mit dieser Auffassung des Staats scheint es im Widerspruch zu stehen, daß wir bei vielen Völkern, und zwar gerade bei solchen, die zu großer geschichtlicher Bedeutung gelangt sind, z.B. bei den Israeliten, den Griechen, den Deutschen, in der Zeit, wo wir sie zuerst geschichtlich genauer kennen lernen, die staatlichen Institutionen nur schwach entwickelt finden, während andere, kleinere Verbände ein sehr kräftiges Leben haben und als die eigentlichen Grundelemente der sozialen Organisation erscheinen. Vorwiegend sind es Verbände, die auf der Idee der Blutsverwandtschaft und der gemeinsamen Abstammung beruhen, wie die Phylen, Phratrien, Clans, Geschlechter; und diese können sich, wie die Geschlechter (Clans, Sippen) der Indianer mit ihren Totems [12] oder die Heiratsklassen der Australier, über verschiedene Stämme oder Staaten erstrecken, wie z.B. die vier ionischen und die drei dorischen Phylen jedenfalls in einem großen Teil der ionischen und der dorischen Staaten und ursprünglich wahrscheinlich in allen vorkommen. Daneben finden wir ein völlig selbständiges Leben in den kleinsten lokalen Gruppen, Gaugemeinden und Dörfern, während die Autorität des Staats, dem sie angehören, nur sehr gering ist. In manchen Fällen, z.B. bei den Boeotern, Phokern, Eliern, Aetolern, kann man schwanken, ob man von einem Einheitsstaat mit sehr selbständigen Einzelgemeinden reden muß oder ob man vielmehr diese als die Staaten und die Gesamtheit als eine Föderation ansehen soll. Ganz gleichartig sind die Zustände der arabischen Stämme und die der Israeliten in der sogenannten Richterzeit, wo sich innerhalb des Volks selbständige größere Einheiten auf lokaler Grundlage, die sogenannten zwölf Stämme, gebildet haben, vielfach aber die kleinsten Gruppen, die Geschlechter (mišpachôt), ganz selbständig handeln, bis dann die Not der Zeit zur Bildung eines neuen kräftigen Einheitsstaats führt. Hier, und ähnlich in der Geschichte des Mittelalters, sehen wir also den einheitlichen Staat und seine durchgebildete Organisation erst ganz allmählich im Verlauf des geschichtlichen Prozesses aus sehr bescheidenen Ansätzen erwachsen. Da liegt der Gedanke sehr nahe, diesen Prozeß nach oben in die Zeiten, von denen wir keine oder doch keine genauere Kunde haben, weiter fortzusetzen und anzunehmen, daß der Staat ursprünglich überhaupt nicht existiert habe, sondern die kleineren und kleinsten Gruppen die ursprünglichsten, vorstaatlichen Formen sozialer Organisation gewesen seien, die Atome, aus deren Zusammenschluß der Staat erst in einer verhältnismäßig späten Epoche menschlicher Entwicklung entstanden sei. Man hat denn auch z.B. angenommen, daß die griechischen Phylen oder die römischen Stammtribus ursprünglich selbständige Stämme gewesen seien, man hat den römischen Staat aus einem Vertrage der ursprünglich souveränen Gentes unter Führung ihrer Familienhäupter [13] abgeleitet. Daß diese Konstruktionen verkehrt waren, ist gegenwärtig wohl allgemein zugegeben. Die Phylen und Phratrien, die Tribus und Curien, die Geschlechter sind niemals Staaten, sondern immer nur Unterabteilungen eines Staats oder eines Stammes gewesen; und wenn sich in geschichtlicher Zeit dieselben Phylen über mehrere Stadtstaaten, dieselben Totemgeschlechter über mehrere Stämme verbreitet finden, so ist das nur ein Beweis, daß diese früher einmal eine staatliche Einheit gebildet haben, die sich in mehrere selbständige staatliche Verbände aufgelöst hat. Diese Einheit hat denn auch überall in den Stammnamen und in zahlreichen gemeinsamen Sitten und Anschauungen greifbare Spuren hinterlassen. Ebensowenig ist die Selbständigkeit der einzelnen Gaue und Städte, der lokalen Atome das Ursprüngliche. Auch hier zeigen, bei den Griechen wie bei den Germanen, die Stammnamen deutlich die älteren, größeren Einheiten, die sich aufgelöst, die sich gelegentlich aber auch zu größeren Einheiten zusammengeschlossen haben. Diesen Prozeß können wir im Stammleben überall verfolgen, am anschaulichsten vielleicht bei den Arabern. Überdies ist es bekannt, daß bei den Germanen wie bei den Griechen größere staatliche Bildungen, zum Teil von sehr bedeutender Leistungsfähigkeit, der Zersplitterung vorangegangen sind. Die volle Atomisierung ist in den mittelalterlichen Zeiten der Israeliten, der Griechen, der Stämme Italiens, der christlichen Völker das Produkt eines bestimmten, und zwar eines bereits recht fortgeschrittenen Kulturzustandes, des Übergangs zu voller Seßhaftigkeit, bei der die älteren, auf dem Stammverband beruhenden staatlichen Ordnungen nicht mehr funktionieren können. Daher zieht sich alsdann die Staatsidee auf die kleinsten, eng geschlossenen Elemente zurück, um hier neue Kräfte zu sammeln und dann von hier aus aufs neue expansiv vorzudringen.

Das hier besprochene Problem kehrt in vielen hochentwickelten modernen Staaten wieder, die auf föderativer Grundlage erwachsen sind, so bei der Republik der vereinigten Niederlande (und da nochmals bei [14] den einzelnen Provinzen in ihrem Verhältnis zu den Städten), bei der Schweiz, beim Deutschen Reich, bei den Vereinigten Staaten von Nordamerika.


7. Aber der Gedanke, das Wesen des Staats dadurch zu erfassen, daß man ihn in seine Elemente zerlegt und dann aus diesen geschichtlich aufbaut, liegt allerdings nahe genug. Auch Aristoteles ist der Verlockung erlegen, wenn er den vollendeten Staat, der ihm die πόλις, die Stadtgemeinde ist, zwar als aus der menschlichen Natur erwachsen definiert, aber trotzdem geschichtlich aus der Vereinigung von Dörfern, und diese wieder aus der Familie entstehen läßt. Die moderne Ethnologie und die auf ihr fußenden anthropologischen und kulturhistorischen Darstellungen haben dann diese Betrachtungsweise ganz in den Vordergrund gestellt. Sie stehen bewußt und unbewußt in vielfachem Gegensatz gegen die Historiker, für die der Staat und seine Entwicklung und Schicksale den Mittelpunkt des Denkens und Forschens bildet; sie richten ihr Augenmerk vorwiegend auf diejenigen Institutionen und Schöpfungen der Menschen, bei denen der Staat nicht oder wenigstens nicht unmittelbar und sinnlich greifbar in Wirksamkeit tritt. Hier hat die vergleichende Ethnologie ein außerordentlich reiches Material erschlossen und uns die große Mannigfaltigkeit der sozialen Institutionen, der Formen des Geschlechtslebens und der Blutsverbände kennen gelehrt. Es ist um so begreiflicher, daß sie auf diese Momente das entscheidende Gewicht legt, da sie durchaus empirisch vorgehen und voraussetzungslos das Material methodisch sammeln und ordnen, sich von ihm belehren lassen will. Tatsächlich freilich kann sie dabei Hypothesen und Schlußfolgerungen so wenig entbehren, wie irgend eine andere Wissenschaft, operiert vielmehr oft genug mit den kühnsten Voraussetzungen, die in dem ethnographischen Material nur scheinbar eine Stütze haben, weil es eben schon nach diesen Voraussetzungen gesammelt und geordnet ist. So gehen denn auch die Theorien der einzelnen Forscher auf diesem Gebiet vielfach aufs stärkste auseinander, und Behauptungen, die eine Zeitlang als [15] festbegründet und unwiderlegbar galten, haben sich oft genug bei tiefer dringender Untersuchung als völlig unhaltbar erwiesen. – Dieser Betrachtungsweise ist dann eine in der politischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts wurzelnde Tendenz entgegengekommen. Der moderne Liberalismus ist von dem Streben beherrscht, wie in der Praxis die Macht, so in der Theorie die Bedeutung des Staats herabzudrücken und demgegenüber einerseits die Rechte des Individuums auf freie Bewegung, andrerseits die Bedeutung der teils in Wirklichkeit, teils wenigstens scheinbar nicht vom Staate gebildeten und abhängigen Verbände und Genossenschaften zu betonen. Er verwirft die Auffassung der Historiker von der zentralen Bedeutung des Staats für das menschliche Leben und stellt statt dessen den Begriff der menschlichen Gesellschaft und ihrer Wandlungen in den Vordergrund: die Anthropologie tritt daher vielfach unter dem Namen der Soziologie auf. Die starke Bedeutung des wirtschaftlichen Lebens, das sich dem äußeren Anschein nach im wesentlichen selbständig, unbekümmert um staatliche Regelung, entwickelt, ja den Staat, wenn er den Versuch macht, einzugreifen, vielmehr umgekehrt in seine Bahnen zu zwingen scheint, hat diese Auffassung mächtig gefördert. In mannigfachen Variationen, bei denen oft der tatsächliche Zusammenhang mit den dennoch ihren Ausgangspunkt bildenden liberalen Prinzipien ganz in den Hintergrund tritt, hat sie die Theorien der Gegenwart gestaltet. Die Ergebnisse der vergleichenden Ethnologie schienen damit aufs beste übereinzustimmen. So gilt es in weiten Kreisen als ein erwiesener und unbestreitbarer Lehrsatz, daß der Staat eine junge Bildung der menschlichen Entwicklung ist, und daß ihm eine Zeit vorhergegangen ist, in der die aus der physischen Blutsverwandtschaft und dem Verkehr der Geschlechter mit einander entstandenen sozialen Verbände die maßgebende Gestaltung der menschlichen Gesellschaft bildeten und das Leben der einzelnen Individuen bestimmten. Diese Theorie sucht die Wurzel, den Keim aller sozialen Organisation in der Organisation des Geschlechtslebens, in dem Verhältnis [16] zwischen Mann und Weib – sei es, daß man mit Aristoteles von der geschlossenen patriarchalischen Familie ausgeht, sei es, daß man dieser ihr Gegenbild vorangehen läßt, die Ordnung, die man als matriarchalische oder mutterrechtliche Familie bezeichnet, sei es, daß man den Urzustand in der sogenannten Horde, der ungeregelten Vermischung von Männern und Frauen innerhalb eines sozialen Verbandes, oder in der Gruppenehe, der promiscuen Heirat einer (angeblich durch Ahnenkult in der Form des sogenannten Totemismus) geschlossenen Gruppe von Männern mit einer geschlossenen Gruppe von Frauen, zu erkennen glaubt. Diese älteste Ordnung des Geschlechtslebens, wie auch immer sie ursprünglich gestaltet gewesen sein mag, gilt als naturwüchsig, φύσει, und mit dem Dasein des Menschen unmittelbar gegeben. Sie gilt daher als die Urzelle, aus der alle anderen Verbände, und so auch der Staat, erst im Laufe des geschichtlichen Prozesses entstanden sein sollen.

8. Indessen diese Auffassung, so verbreitet sie ist, und so selbstverständlich sie vielen erscheint, ist nicht haltbar, weder deduktiv noch empirisch. Denn sie faßt die Verbindung der Geschlechter ja keineswegs als den physischen Begattungsakt, der dann, je nach Umständen und Neigung, eventuell auch ein kürzeres oder längeres Zusammenwohnen von Mann und Weib zur Folge haben mag, sondern sie betrachtet sie als eine dauernde Lebensgemeinschaft von Männern, Weibern und Kindern, die bestimmten rechtlichen und allgemein anerkannten Ordnungen unterstellt ist und dauernde rechtliche Konsequenzen von höchster Bedeutung hat. Diese beiden Formen des Geschlechtsverkehrs, die freie ephemere Verbindung und die Ehe, sind aber streng auseinanderzuhalten; sie haben in Wirklichkeit gar nichts miteinander gemein als den rein physischen Geschlechtsakt. Die freie und daher zugleich promiscue Verbindung der Geschlechter existiert ohne Ausnahme bei allen Völkern und in jeder Gesellschaft, sei es, daß der Verkehr völlig freigegeben ist, sei es, daß er bestimmten Satzungen unterstellt und z.B. nur [17] zwischen Angehörigen bestimmter Gruppen gestattet ist, oder daß er den jungen Mädchen vor der Verheiratung erlaubt oder, wie bei der weit verbreiteten religiösen Prostitution, direkt geboten ist. Sehr gewöhnlich ist ein besonderer Weiheakt, z.B. die Beschneidung, durch den die jungen Leute für die Ausübung des geschlechtlichen Verkehrs reif erklärt und damit zugleich in die Verbände der erwachsenen Männer oder Frauen als vollberechtigte Mitglieder aufgenommen werden. Bei den christlichen Völkern ist der freie Geschlechtsverkehr umgekehrt durch freilich so gut wie wirkungslose Gebote der Religion und Moral offiziell verpönt, wird jedoch darum nicht weniger eifrig geübt. Durchweg aber ist diese Form des Geschlechtsverkehrs, die bei vielen Tieren die allein herrschende ist, sozial völlig wirkungslos: mit der Befriedigung des Triebes und dem Erlöschen der individuellen Neigung ist das Verhältnis gelöst und hinterläßt sozial keine weiteren Folgen. – Ganz anders steht es mit demjenigen Geschlechtsverkehr, auf den die hier besprochenen Theorien gegründet sind. Er setzt überall eine bestimmte, allgemein anerkannte Regelung voraus und schafft ein dauerndes Verhältnis, eine Ehe, die bestehen bleibt, auch wenn der sexuelle Verkehr aufhört und die Geschlechtstriebe anderweitig befriedigt werden, und die nur entweder durch einen bestimmten rechtlichen Akt, wenn auch in noch so einfachen Formen, oder durch den Tod gelöst werden kann – und oft überlebt sie selbst diesen, wenn die Witwe dem Gatten in den Tod folgen muß, oder wenn sie mit seiner sonstigen Hinterlassenschaft in den Besitz des Erben oder in ein rechtliches Abhängigkeitsverhältnis zu diesem übergeht, oder wenn sie in der Leviratsehe dem Verstorbenen einen fiktiven Nachkommen gebären muß. Dieses rechtliche Verhältnis der Ehe besteht auch, wenn in der Polyandrie die Frau mehreren Brüdern gemeinsam gehört, wenn in der Gruppenehe ein ganzer Verband promiscue mit einer bestimmten Frauengruppe verbunden ist, oder wenn die Sitte gestattet, daß die Frau neben dem Gatten noch eine beliebig große Zahl von Liebhabern haben darf – [18] eine Sitte, die bei vielen Völkern ganz allgemein herrscht –, oder daß der Ehemann sein Weib dem Gaste überläßt, oder auch, wie es in Sparta und auch in Rom vorkommt (§ 11 A.), sie zeitweilig einem Freunde übergibt, damit dieser von ihr Kinder zeuge. Immer handelt es sich um ein dauerndes und rechtlich geordnetes Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Individuen der beiden Geschlechter, und zwar um ein Verhältnis, das allerdings auch der Befriedigung des Geschlechtstriebes dient und im Einzelfalle vielfach daraus hervorgeht, für dessen Entstehung und rechtliche Gestaltung aber dieser Trieb nur nebensächlich in Betracht kommt – bei reichen und vornehmen Männern und vor allem den Königen wird er vielmehr durch Konkubinen und Sklavinnen, nicht durch die Ehe befriedigt. Viel stärker fällt schon das Bestreben der Männer ins Gewicht, die Arbeitskraft der Frau auszunutzen für die Bereitung der Mahlzeit, die häuslichen Arbeiten, die Pflege des Viehs, die Bestellung der Felder, wozu dann oft noch die materiellen Vorteile der durch die Ehe geschlossenen dauernden Verbindung mit den Angehörigen der Frau hinzukommen. Das eigentlich Entscheidende aber ist überall das Verhältnis zu den Kindern und die Frage, wem diese rechtlich gehören.


Vgl. über die hier berührten Fragen das, trotz einzelner Mißgriffe, besonnene und inhaltreiche Buch von H. SCHURTZ, Altersklassen und Männerbünde, 1902.


9. Schon oben ist auf die entscheidende Bedeutung hingewiesen, welche für alle Entwicklung des menschlichen Lebens der Tatsache zukommt, daß die menschliche Nachkommenschaft sich sehr langsam entwickelt und jahrelanger Pflege bedarf, bis sie selbständig existieren kann. Andrerseits ist das Bedürfnis, ausreichenden Nachwuchs zu haben, für jeden menschlichen Verband unabweisbar. Ihm liegt die Erzeugung und Aufziehung des Nachwuchses weit mehr am Herzen als dem einzelnen Menschen; denn diesem ist sein eigenes Leben die Hauptsache, für jeden Verband aber sind die gegenwärtig Lebenden an sich völlig irrelevant und nur die momentanen Vertreter der Verkettung der Generationen: er ist seiner Idee [19] nach ewig und umfaßt Vergangenheit und Zukunft ebensogut wie die Gegenwart. Daher der Zwang zur Ehe und die Sorge für die Erzeugung und Aufziehung einer Nachkommenschaft; daher ist auch die Entscheidung, ob ein neugeborenes Kind am Leben bleiben und als Glied des Verbandes anerkannt werden soll, bei den meisten Völkern nicht in das Belieben des Erzeugers gestellt, sondern wird von den Sippen oder einem anderen staatlich anerkannten Verbande gefällt. Der umfassende staatliche Verband oder der Stamm weist die Ausführung dieser Aufgaben im wesentlichen, wenn auch nicht ausschließlich, den in ihm stehenden engeren Gruppen, den Brüderschaften oder Phratrien, den Clans und Geschlechtsverbänden zu: denn diese haben das lebhafteste Interesse daran, ihre Stellung und ihren Einfluß innerhalb des umfassenden Verbandes zu erhalten und zu mehren, und wenn sie ihren Nachwuchs zahlreich und kräftig erhalten, sind damit zugleich die Bedürfnisse der Gesamtheit befriedigt. Bei vielen Völkern – keineswegs bei allen – ist aus dem Glauben an eine Fortexistenz der Seele nach dem Tode die Vorstellung erwachsen, daß diese Fortexistenz nur dann gesichert oder wenigstens einigermaßen behaglich gestaltet werden kann, wenn die Nachkommen für sie sorgen, ihr Speise und Trank, Kleidung und zauberkräftige Gebete darbringen (§ 59f.). Damit tritt ein für den Einzelnen sehr wirksames egoistisches Motiv hinzu, rechtzeitig für die Erzeugung eines Nachwuchses zu sorgen, der »seinen Namen lebendig erhält«; wenn aber die Sitte und die religiöse Anschauung der Gesamtheit diesen Glauben übernimmt und fördert, so ist das oft genug doch nur ein verhüllter Ausdruck ihres Bedürfnisses nach dauernder Erhaltung ihres Bestandes; dafür zu sorgen, wird dem Einzelnen als religiöse, im eigensten Interesse liegende Pflicht auferlegt. Eben darum kommen für diese Anschauung bei patriarchalischer Familienorganisation die Töchter (außer im Falle der Erbtöchter) nicht in Betracht: mit der Sorge für die Erzeugung von Söhnen ist vielmehr sehr häufig die Aussetzung und Tötung der weiblichen Nachkommenschaft verbunden.


[20] Bei den Erbtöchtern tritt das treibende Moment besonders deutlich zu Tage: wenn kein Sohn, sondern nur eine Tochter da ist, greift der Staat ein und erhält die Familie künstlich, indem er ihre Hand und damit das Erbgut vergibt. Die Fiktion, daß dadurch dem Verstorbenen der Totenkult und die Fortexistenz seiner Seele gesichert wird, ist dabei durchaus nebensächlich und nur Einkleidung; die Erhaltung der Zahl der begüterten und leistungsfähigen Familien ist das, worauf es in Wirklichkeit ankommt, und eben deshalb ist die Erzeugung des fiktiven Nachkommen nicht der Pietät der Angehörigen überlassen – da würde das Pietätsgefühl oder die Furcht vor dem Zorn der Seele des Toten, in der die Modernen das Motiv sehen, sehr wenig erreichen, sondern in der Regel würden die Angehörigen das Erbgut für sich nehmen –, sondern wird vom Staat nach feststehenden Rechtssätzen erzwungen. – Als ein instruktives Beispiel, wie lebendig im Stammesleben das Streben, die eigene Existenz zu erhalten, wirksam werden kann, teilt mir E. LITTMANN mit, daß die Abessinier nur stammfremde Kriegsgefangene kastrieren; sind die Rebellen oder Gegner ihre eigenen Landsleute, so werden ihnen Hand und Bein abgehackt, aber sie können weiter zeugen.


10. Die große Frage ist nun aber, wem die Kinder gehören; und sie hat bekanntlich die verschiedensten Beantwortungen gefunden und die große Mannigfaltigkeit der Eheformen erzeugt, die uns in der Ethnologie entgegentritt. Eine der am weitesten verbreiteten Formen ist die, welche mit einem ungeschickten und irreführenden Namen als Mutterrecht oder gar als Matriarchat bezeichnet wird. Von einer wirklichen Frauenherrschaft ist dabei keine Rede. Denn die Unterordnung des Weibes unter den Mann (die keineswegs ursprünglich und überall völlige Hörigkeit ist) ist nun einmal durch die physischen Eigenschaften des weiblichen Geschlechts unabänderlich gegeben; die bei barbarischen Völkern mehrfach vorkommende Einrichtung eines Amazonenkorps kann nie über einen eng beschränkten Kreis hinausgreifen und hat die Jungfräulichkeit der Amazonen zur Voraussetzung, und die Teilnahme der Frauen primitiver Völker am Kampf bei großen Kriegszügen schließt eine rechtliche Unterordnung unter die Männer keineswegs aus (§ 20). Bei dem sogenannten Mutterrecht dagegen ist das Weib ein werbender Besitz des Verbandes (der Gruppe, des Geschlechts, der Familie), in dem sie geboren ist und aus dem sie niemals ausscheidet. [21] Die Kinder, die sie zur Welt bringt, gehören daher diesem Verbande an, d.h. sie stehen unter der Aufsicht ihres mütterlichen Großoheims oder der Brüder ihrer Mutter, und beerben daher diese. Eine derartige Ordnung kann also rechtlich wohl den Begriff des Ehemanns kennen – falls die geschlechtliche Verbindung eine feste rechtliche Form angenommen hat –, aber nicht den des Vaters; ein rechtliches Verhältnis zwischen dem Erzeuger und seinen physischen Kindern existiert nicht, sondern statt dessen ein rechtliches Verhältnis zwischen dem Mann und den Kindern seiner Schwester. Bei solcher Ordnung haben die Frauen nicht nur im Geschlechtsleben, sondern auch rechtlich eine weit freiere Stellung, da das Erbrecht ihrer Kinder an ihnen haftet; das eheliche Verhältnis kann alsdann sehr locker sein, so daß die Forderung der Keuschheit der Frau ganz unbekannt ist und die Verhältnisse sich der Promiscuität nähern, die daher in unseren Berichten oft ganz in den Vordergrund tritt; bei anderen Stämmen dagegen mag es sich immer fester gestalten, so daß das »Mutterrecht« nur noch in den für die Kinder geltenden Bestimmungen, vor allem im Erbrecht, rudimentär fortlebt. Vielfach führt das dazu, daß die Ehe regelmäßig im engsten Kreise der Blutsverwandten geschlossen wird (die sogenannte Endogamie), daß, wie in Aegypten, die Ehe zwischen Bruder und Schwester dominierend wird – alsdann wird der Gatte auch rechtlich zum Vater seiner Kinder, aber nicht als Erzeuger, sondern als mütterlicher Oheim. Bei anderen Stämmen ist umgekehrt die geschlechtliche Vermischung innerhalb der als blutsverwandt geltenden Gruppe verpönt (die sogenannte Exogamie). Eine rohere Form ist die vollständige oder nahezu vollständige Promiscuität innerhalb bestimmter Gruppen, sei es endogam, sei es exogam, wie sie aus älterer Zeit vielfach glaubwürdig bezeugt ist und in Australien noch jetzt besteht. Dem allem gegenüber stehen die Ordnungen, in denen der Mann auch rechtlich Mittelpunkt der Ehe und daher Herr der Frau und Vater und Eigentümer seiner Kinder wird, eine Eheform, die bekanntlich [22] sehr oft in Gestalt der Raubehe auftritt. Im einzelnen gestaltet sich auch diese patriarchalische Ordnung der Familie sehr verschiedenartig: bei manchen Stämmen herrscht Polyandrie, d.h. mehrere Brüder oder Blutsverwandte haben gemeinsam nur ein Weib (in der Regel unter Vorherrschaft des ältesten) und die Kinder gehören ihnen gemeinschaftlich; bei anderen herrscht Polygamie – die aber immer durch die Vermögensverhältnisse, d.h. die Schwierigkeit, mehrere Frauen zu ernähren, beschränkt ist –; bei anderen tritt uns von Anfang an die monogame Ehe entgegen.


Ich stelle hier die wichtigsten Angaben aus dem Altertum zusammen. Der Name Mutterrecht ist bekanntlich von BACHOFEN geschaffen im Anschluß an die Angabe Herodots I, 173, daß bei den Lykiern die Verwandtschaft nach der Mutter, nicht nach dem Vater gerechnet wird, und die Rechtsstellung der Mutter sich auf die Kinder vererbt [danach Nic. Dam. fr. 129; Herakl. polit. 15, d.i. Aristoteles Λύκιοι ἐκ παλαιοῦ γυναικοκρατοῦνται. Eine Aetiologie bei Plut. virt. mul. 9]. Sehr auffallend ist, daß sich in den lykischen Inschriften keine Spur dieser Sitte erkennen läßt. Rudimente derselben Ordnung bei den Karern und auf Kos hat TÖPFFER, Art. Amazonen bei PAULY-WISSOWA I, 1769 zusammengestellt. – Typisch findet sich das »Mutterrecht« bei den Aethiopen (Kuschiten) von Meroe Nic. Dam. fr. 142: Αἰϑίοπες τὰς ἀδελφὰς μάλιστα τιμῶσι, καὶ τὰς διαδοχὰς μάλιστα καταλείπουσι οἱ βασιλεῖς οὐ τοῖς ἑαυτῶν ἀλλὰ τοῖς τῶν ἀδελφῶν υἱοῖς [damit wird die Angabe Herodots III, 20 (= Aristot. pol. Δ 3, 7 p. 1290 b, 5) verbunden, daß der größte Mann zum König bestellt werde; vgl. Diod. III, 5. Strabo XVII, 2, 3]. Da bei dieser Ordnung das Anrecht auf das Königtum nur auf dem Blut der Mutter beruht, kann das dazu führen, daß sich bei solchen Stämmen ein Königtum der Frauen entwickelt. Das ist bei den Aethiopen von Meroe in späterer Zeit, in der Epoche der Kandake's, geschehen, vgl. Bion v. Soli fr. 5 (MÜLLER FHG. IV, 351): Αἰϑίοπες τοὺς βασιλέων πατέρας οὐκ ἐκφαίνουσιν, ἀλλ᾽ ὡς ὄντας υἱοὺς ἡλίου παραδιδόασιν˙ ἑκάστου δὲ τὴν μητέρα καλοῦσι Κανδάκην, und Strabo XVI, 4, 8 βασιλεύονται δ᾽ ὑπὸ γυναικός. Bei den Nubiern folgt im Mittelalter auf den König der Sohn der Schwester, und noch gegenwärtig herrscht hier Mutterrecht: WELLHAUSEN Ber. Gött. Ges. 1893, S. 474, 2 nach Barhebraeus und MUNZINGER. – Ebenso wird es zu erklären sein, daß wir bei den Massageten in der Kyrossage (Herod. I, 205), bei den Sabaeern zur Zeit Salomos, bei dem nordarabischen Stamm Aribi zur Zeit Tiglatpilesers IV. Königinnen finden; das ist schwerlich lediglich Zufall. Dabei ist jedoch nie zu vergessen, daß für das Herrscherhaus meist ein Sonderrecht gilt, und [23] daß Königinnen oft gerade bei Völkern vorkommen, bei denen sonst die männliche Erbfolge völlig durchgeführt ist, z.B. in England. So gehört auch der Fall der Zenobia von Palmyra [den R. SMITH heranzieht] nicht hierher: sie war Regentin für ihren Sohn. Die Privilegien der Königin-Mutter bei Völkern mit rein männlicher Erbfolge, z.B. bei den Osmanen, haben damit nichts zu tun. – Im Herrscherhaus von Elam herrscht zu Ende des 3. Jahrtausends Mutterrecht: die Thronfolge vererbt sich durch die Schwester des Herrschers (§ 434). – Bei den Cantabrern »erhalten die Frauen von den Männern eine Mitgift, die Töchter beerben sie und statten ihre Brüder bei der Vermählung aus; denn hier besteht eine Art Weiberherrschaft«, Strabo III, 4, 18. Hier sind also die Frauen die Repräsentantinnen der Stammeseinheit und der Fortpflanzung des Stammes. Dagegen von den Lusitanern und anderen iberischen Stämmen berichtet er III, 3, 7, daß sie γαμοῦσι ὣσπερ οἱ Ἕλληνες. – Die Berichte der Alten über Promiscuität sind im allgemeinen keineswegs so unzuverlässig, wie oft behauptet wird. Daß sie, von ihren eigenen Sitten ausgehend, meist nur die augenfälligen Abweichungen von diesen hervorheben und dabei übertreiben, teilen sie mit vielen ethnographischen Schilderungen der modernen Literatur, und zu einem vollen Verständnis des Systems gelangt man auch bei der letzteren nur in seltenen Fällen. Volle Promiscuität, verbunden mit einer Verteilung der Kinder auf die Männer, angeblich nach der Ähnlichkeit [das wären dann also keineswegs »mutterrechtliche« Zustände], wird überliefert von dem libyschen Stamm der Auseer [wo auch ein kriegerisches Jungfrauenkorps besteht] Herod. IV, 180: μῖξιν δὲ ἐπὶκοινον τῶν γυναικῶν ποιέονται, οὔτε συνοικέοντες (d.i. ohne eheliche Lebensgemeinschaft) κτηνηδόν τε μισγόμενοι; wenn die Kinder bei der Mutter herangewachsen sind (ἐπεὰν δὲ γυναικὶ τὸ παιδίον ἁδρὸν γένηται), kommen die Männer im dritten Monat zusammen und verteilen sie nach der Ähnlichkeit (vgl. Arist. pol. II 1, 13, der das gleiche von τινὲς τῶν ἅνω Αιβύων auf Grund der Schriften τῶν τὰς τῆς γῆς περιόδους πραγματευομένων erwähnt). Herodots Schilderung der Auseer [von Nic. Dam. fr. 111 auf die illyrischen Liburner übertragen, mit Verteilung der Kinder im sechsten Jahre] ist bei Mela I, 8 auf die Garamanten übertragen (ebenso Plin. V, 45 Garamantes matrimoniorum exortes passim cum feminis degunt); von den Bewohnern der Oase Augila erzählt Mela: feminis eorum solemne est, nocte qua nubunt omnium stupro patere, qui cum munere advenerint, et tum cum plurimis concubuisse maximum decus; in reliquum pudicitia insignis est. Unterschiedslose Mischung der Geschlechter bei den sonst unbekannten Δαψολίβυες bei einem Herbstfest: Nic. Dam. fr. 135. Bei den libyschen Gindanen erhält die Frau von jedem Liebhaber einen Knöchelring, je mehr Ringe sie hat, desto angesehener ist sie, Herod. IV, 176. Bei den Trogodyten am Roten Meer sind αἱ γυναῖκες κοιναὶ καὶ οἱ παῖδες, mit[24] Ausnahme der Frau des Königs: Agatharchides V 61, vgl. 31 = Diod. III 15, 2. 32, 1; Strabo XVI 4, 17. Wenn in der aegyptischen Ehe die Frau immer eine freie Stellung mit eigenem Besitzrecht bewahrt hat, die Geschwisterehe ganz gewöhnlich ist und die Söhne in der Regel nach der Mutter benannt werden (§ 167 u. A. 176), so geht das auf gleichartige Zustände zurück, die bei den Hamiten allgemein geherrscht haben werden. – Nach Xen. Anab. V 4, 33 scheint bei den Mossynoeken am Pontos Promiscuität zu herrschen, was denn auch Apoll. Rhod. II 1023 und Mela I 19 von ihnen berichten (vgl. HÖFER, Rh. Mus. 59, 546ff.). Bei den Padaeern und anderen nichtarischen Indern des Südostens μῖξις ἐμφανής ἐστι κατάπερ τῶν προβάτων Herod. III 101. Die Agathyrsen ἐπίκοινον τῶν γυναικῶν τὴν μῖξιν ποιεῦνται, ἵνα κασίγνητοἱ τε ἀλλήλων ἔωσι καὶ οἰκήιοι ἐόντες πάντες μήτε φϑόνῳ μήτ᾽ ἔχϑει χρέωνται ἐς ἀλλήλους Herod. IV 104; im übrigen herrschen bei ihnen die Sitten der Thraker, bei denen zwar Polygamie mit Frau enkauf (Xen. Anab. VII 2, 38) und Absperrung des Harems besteht, aber den Mädchen vor der Vermählung der geschlechtliche Verkehr völlig freigegeben ist (Herod. V 6. 16, vgl. Strabo VII 3, 4 u.a.). – Über die Pikten s. § 11 A., ebenso über die Semiten. – Bei den Etruskern ist (wie bei den Aegyptern und Lykiern) die Anführung des Mutternamens ganz gewöhnlich. Von ihrem Geschlechtsleben erzählt Theopomp bei Athen. XII 517 d κοινὰς ὑπάρχειν τὰς γυναῖκας ... τρέφειν δὲ τοὺς Τυρρηνοὺς πάντα τὰ γινόμενα παιδία, οὐκ εἰδότας ὅτου πατρός ἐστιν ἕκαστον; auch diese Kinder leben ebenso πλησιάζοντες ταῖς γυναξὶν ἁπάσαις; so wird wohl mit Recht auch bei ihnen ursprünglich Mutterrecht angenommen, wenn auch in historischer Zeit die patriarchalische Geschlechtsreform völlig durchgedrungen ist: denn der Gentilname vererbt sich auch bei ihnen durch den Vater. – Mehrfach ist dann die Promiscuität des Geschlechtsverkehrs mit einer festen Ehe, d.h. mit dem rechtlich geordneten Zusammenleben von Mann und Frau verbunden; so polygam bei den libyschen Nasamonen, Herod. IV 172, wo die Braut beim Hochzeitsfest allen Gästen beiwohnt (vgl. oben Mela's Angabe über Augila; ebenso nach Diod. V 18, d.i. Timaeos, bei den Balearen) und dafür ein Geschenk erhält, und auch nach der Eheschließung ganz ungebunden ist: wer sie besucht, stellt seinen Stock vor die Tür (vgl. die gleiche Sitte in der Polyandrie der Sabaeer bei Strabo XVI 4, 25, § 11 A.). Von den Massageten schildert Herod. I 216 die gleiche Sitte verbunden mit Monogamie (γυναῖκα μὲν γαμέει ἕκαστος, ταύτῃσι δὲ ἐπίκοινα χρέωνται, der Besucher hängt seinen Köcher an ihren Wagen). Über Promiscuität bei den (nichtarischen) Gelen und Baktrern berichtet [Pseudo-]Bardesanes [vielmehr sein Schüler Philippos] bei Euseb. praep. ev. VI 10, 18. 21. Über Briten und Iren s. § 11 A. – Die sogenannte Endogamie und Exogamie haben mit der Stammverfassung gar nichts zu tun, sondern gelten nur für die Untergruppen der Stämme, die[25] Heiratsklassen, Geschlechtsverbände, Clans (die sich wieder durch mehrere Stämme verzweigen können). Die seltsamste Sitte, welche das Geschlechtsleben erzeugt hat, ist das Männerkindbett (Couvade), die aus dem Altertum von den Spaniern (Strabo III 4, 17; bei den Basken bis in die Neuzeit erhalten), Corsen (Diod. V 14 aus Timaeos) und Tibarenern (schol. Apoll. Rhod. II 1011. Plut. de prov. Alex. 10 ed. CRUSIUS = Zenob. V 25) überliefert ist; sie ist ein Versuch, die Männer an der Geburt der Kinder teilnehmen zu lassen und dadurch in ein unmittelbares Verhältnis zu diesen zu bringen.


11. So tritt uns eine bunte Fülle oft diametral entgegengesetzter Ordnungen entgegen. Es ist Willkür und petitio principii, wenn eine von ihnen als die ursprünglich allgemein herrschende, alle anderen als spätere Umwandlungen angesehen werden, wie es von den ethnologischen Kulturhistorikern bald mit dieser, bald mit jener versucht ist – hier stehen die Theorien eben so bunt einander gegenüber, wie die realen Erscheinungen, und jede von ihnen beansprucht für sich in derselben Weise absolute Gültigkeit, wie diese der bestehenden Ordnung innerhalb eines bestimmten Stammes zusteht. Vielmehr haben sich auch auf diesem Gebiete die verschiedenen Stämme verschiedenartig entwickelt, bei den einen ist, aus dem Zusammenwirken gegebener Zustände und Anschauungen, diese, bei den anderen jene die herrschende geworden. Im allgemeinen kann allerdings die patriarchalische Ordnung als die fortgeschrittenste gelten; aber auch aus ihr sind Übergänge in rohere Formensicher nachweisbar. So ist es nicht zweifelhaft, daß bei den Indogermanen Ehe und Verwandtschaftsverhältnisse patriarchalisch geordnet waren; aber von den wahrscheinlich iranischen Massageten erzählt Herodot I, 216, daß zwar jeder ein Weib hat, daß diese aber promiscue benutzt wurden; also der Ehemann ist nur der dauernde, nicht der einzige Liebhaber des Weibes. Ähnliches erzählt Megasthenes bei Strabo XV, 1, 56 von den Stämmen des indischen Kaukasus, und von den Kelten Britanniens und Irlands wird uns die Weibergemeinschaft vielfach bezeugt – da hat ZIMMER nachgewiesen, daß es sich um eine piktische, von den eingewanderten Kelten übernommene Sitte handelt. In Sparta [26] und Kreta wachsen die Kinder gemeinsam in »Herden« auf, als Besitz der Gesamtheit, nicht der Einzelfamilien, die Frauen haben in Sparta eine sehr freie Stellung, vor allem Erbrecht, der Begriff des Ehebruchs ist dem spartanischen Recht fremd, dagegen Polyandrie und zeitweilige Überlassung der eigenen Frau an einen anderen sehr gewöhnlich. Bei den hamitischen Völkern Nordafrikas ist die mutterrechtliche Eheform allgemein herrschend (§ 10 A.); bei den Semiten dagegen, auch bei den Arabern, besteht im allgemeinen durchaus Patriarchat, aber danebenkommt bei den Wüstenstämmen die umgekehrte Form der Ehe vor, die zeitweise Verbindung eines Stammfremden mit einem Weibe, bei der die Kinder dem Stamm der Mutter angehören; bei den Sabaeern herrscht Polyandrie mit Vorherrschaft des ältesten Bruders und Erbfolge des ältesten lebenden Geschlechtsgenossen; von den Saracenen wird berichtet, daß »die Frauen nur auf eine bestimmte Zeit geheiratet ('gegen Lohn gemietet', uxores mercenariae conductae ad tempus ex pacto) werden; sie geben dem Mann, mit dem sie sich verbinden, Lanze und Zelt, und nach Ablauf der festgesetzten Zeit gehen sie von dannen« (Ammian XIV, 4, 4). Auch die obligatorische Prostitution der Töchter, in der der freie Geschlechtsverkehr, der den mannbaren Töchtern vor der Eheschließung gestattet (oder geboten) war, als religiöse Institution fortlebt, ist bei den kleinasiatisch-armenischen Stämmen weit verbreitet und wahrscheinlich von ihnen aus zu den Nordsemiten gedrungen (vgl. §§ 345. 373. 423. 487 u. A. 490). In diesen und allen ähnlichen Fällen ist es verkehrt, so oft es auch geschehen ist, die uns roher erscheinende Form als die ältere zu betrachten, die einmal allein geherrscht habe und dann durch fortgeschrittenere Formen verdrängt sei; die umgekehrte Entwicklung ist ebensogut möglich.


Von den Briten berichtet Caesar b.G. V, 14 uxores habent deni duodenique inter se communes, et maxime fratres cum fratribus parentesque cum liberis; sed si qui sunt ex his nati, eorum habentur liberi, quo primum virgo quaeque deducta est. Ebenso Bardesanes bei Euseb. pr. ev. VI 10, 28 ἐν Βρεταννίᾳ πολλοὶ ἄνδρες μίαν γυναῖκα ἔχουσιν. Das ist also Polyandrie, an der aber nicht nur Brüder, sondern auch der Vater [27] beteiligt ist [daß eine Frau mit dem Vater in geschlechtlicher Verbindung gestanden hat, gilt hier für den Sohn ebensowenig als Ehehindernis, wie in rein patriarchalischen Verhältnissen da, wo der Harem sich auf den Sohn vererbt, wie z.B. bei den Aegyptern, den Persern, den Israeliten; in der Türkei ist dagegen der Harem des verstorbenen Sultans für seinen Nachfolger unberührbar]. Dagegen erzählt Dio Cass. 76, 12, 2 von den Kaledoniern und Maiaten, d.i. den beiden piktischen Stämmen, διαιτῶνται ... ταῖς γυναιξὶν ἐπικοίνοις χρώμενοι καὶ τὰ γεννώμενα πάντα ἐκτρέφοντες [das ist im Gegensatz zu dem Recht des Vaters über Leben und Tod der Kinder die natürliche Folge der freien Ehe]; ebenso Strabo IV, 5, 4 von den Iren φυνερῶς μίσγεσϑαι ταῖς τε ἄλλαις γυναιξὶ καὶ μητράσι καὶ ἀδελφαῖς. Bei Dio 76, 16, 5 wird eine Antwort einer kaledonischen Frau an die Kaiserin Julia Domna angeführt, die sie ἐπὶ τῇ ἀνέδην σφῶν πεὸς τοὺς ἄρρενας συνουσίᾳ verspottet hat: πολλῷ ἄμεινον ἡμεῖς τὰ τῆς φύσεως ἀναγκαῖα ἁποπληροῦμεν ὑμῶν τῶν Ῥωμαίων˙ ἡμεῖς γὰρ φανερῶς τοῖς ἀρίστοις ὀμιλοῦμεν, ὑμεῖς δὲ λάϑρα ὑπὸ τῶν κακίστων μοιχεύεσϑε. Das trifft durchaus den Kernpunkt: die patriarchalische und die monogamische Ehe führt zu Konkubinat, Prostitution und Ehebruch, die bei freier geschlechtlicher Stellung der Frau nicht vorkommen können. Nach ZIMMER (das Mutterrecht der Pikten und seine Bedeutung für die arische Altertumswissenschaft, Ztschr. der Savignystiftung, romanist. Abt. XV, 209ff.) ist der freie Geschlechtsverkehr der verheirateten Frau in der irischen Sage eben so gewöhnlich, wie nach Herodot bei den Massageten und Nasamonen; er führt das Eindringen dieser Sitte auf die piktische Urbevölkerung zurück, bei deren Herrschern sich die Erbfolge in weiblicher Linie noch bis in späte Zeit erhalten hat: auf die Brüder folgt der Sohn der Schwester. Der freie Geschlechtsverkehr der verheirateten Frau kann neben der von Caesar bezeugten Polyandrie ebensogut bestanden haben wie anderswo neben monogamischer oder polygamischer Ehe. Bei den Festlandskelten besteht dagegen die volle väterliche Gewalt: Caesar b.G. VI, 19 viri in uxores sicuti in liberos vitae necisque habent potestatem, obwohl das Ehegut beiden Gatten gemeinsam gehört; vgl. Arist, pol. II, 6, 6, wonach bei den Kelten keine Gynaikokratie besteht, die sonst bei kriegerischen Stämmen die Regel ist. – Frauentausch bei den Spartanern: Xen. pol. Lac. I, 7f. Plut. Lyc. 15. Nic. Dam. fr. 114, 6 (mit arger Übertreibung: Λακεδαιμόνιοι ... ταῖς αὑτῶν γυναιξὶ παρακελεύονται ἐκ τῶν εὐειδεστάτων κύεσϑαι καὶ ἀστῶν καὶ ξένων); Polyb. XII, 6 b, 8, der daneben die Polyandrie als ganz gewöhnliche spartanische Sitte erwähnt. Vgl. auch Plato leg. I, 637 c und Aristot. pol. II, 6, 5 über die Zuchtlosigkeit der Weiber in Sparta, die eben nur ein anderer Ausdruck dafür ist, daß in Sparta das Recht die eheliche Treue der Frau nicht kannte. Die zeitweilige Überlassung der Frauen an andere zur Kinderzeugung [28] (vgl. Herod. V, 40. VI, 62) erzählt Strabo XI, 9, 1 ebenso von den Tapurern am Kaspischen Meer: ἱστοροῦσιν ὅτι αὐτοῖς εἴη νόμιμον τὰς γυναῖκας ἐκδιδόναι τὰς γαμετὰς ἑτέροις ἀνδράσιν, ἐπειδὰν ἐξ αὐτῶν ἀνέλωνται δύο ἢ τρία τέκνα, καϑάπερ καὶ Κάτων Ὁρτησίῳ δεηϑέντι ἐξέδωκε τὴν Μαρκίαν ἐφ᾽ ἡμῶν κατὰ παλαιὸν Ῥωμαίων ἔϑος (vgl. Plut. Cato minor 25. 52. Appian civ. II, 99). – Aus den Berichten über die Formen der Eheschließung bei den Arabern haben G. A. WILKEN, het Matriarchaat bij de oude Arabiern 1884 und W. ROBERTSON SMITH, Kinship and Marriage in early Arabia 1885 [vgl. NÖLDEKES Kritik ZDMG. 40] eine ursprüngliche Alleinherrschaft der matriarchalischen Ordnung bei den Semiten gefolgert [die R. SMITH dann weiter aus Totemismus erklärt]. Aber die Tatsachen, die sie benutzen, beweisen nur, daß »mutterrechtliche« Ordnungen gelegentlich vorgekommen sind, zum Teil offenbar in denselben Stämmen neben der entgegengesetzten Ordnung. Allerdings wird in alter Zeit für gewöhnlich dem Eigennamen nicht der Name des Erzeugers, sondern nur der des Geschlechts, Clans (hebr. mišpacha), Stammes beigefügt (N. N. Sohn des Geschlechts x, Sohnes des Clans y, Sohnes des Stammes z); aber daneben findet sich bei vornehmen Männern und in feierlicher Rede zu allen Zeiten die Hinzufügung des Vaternamens, und der Begriff des Vaters (abû) ist uralt und allgemein semitisch, während eine Benennung nach der Mutter, wie bei den Aegyptern, Lykiern u.a. nie vorkommt. [NÖLDEKE in der Rezension über WILKENS Matriarchaat, Österr. Monatsschr. für den Orient 1884, 304, macht darauf aufmerksam, daß »jeder Mandaeer sich in religiösen Texten, in denen er oft auch einen anderen Namen trägt als im gemeinen Leben, als Sohn seiner Mutter bezeichnet, während er sich sonst nach seinem Vater benennt«. Woher stammt das? es ist weder semitisch, noch babylonisch oder etwa persisch.] Die Geschlechts- und Stammesnamen sind, abgesehen von wenigen arabischen Ausnahmen (vgl. NÖLDEKE ZDMG. 40, 169ff.), durchweg männlich; daß die Worte für Stamm selbst (wie die Collectiva überhaupt) oft weiblich sind, beweist dagegen gar nichts: da ist der Stamm eben der »Mutterleib« (batn), aus dem die einzelnen Angehörigen hervorgegangen sind. Auch das besondere Verhältnis des Mutterbruders (châl) zu seinen Neffen ist kein sicheres Indicium für »Mutterrecht«; denn wo Polygamie herrscht, sind die Verwandten der Mutter die natürlichen Schirmer ihrer Kinder gegen die Stiefbrüder (diese Beziehungen können höchstens bei vollentwickelter Haremswirtschaft unterdrückt werden, die erst bei hochgesteigerter seßhafter Kultur entstehen kann und bei den arabischen Stämmen natürlich nicht existiert hat). Ich halte es danach nicht für zweifelhaft, daß im allgemeinen bei den semitischen Stämmen die Ordnung, daß die Stammgenossen sich selbst ihren Nachwuchs zeugten (und daher in der Regel innerhalb des Stammes heirateten), die herrschende gewesen ist [29] [über die Beduinen vgl. BURCKHARDT, Notes on the Bedouins I 272: every Bedouin has a right to marry his father's brothers's daughter before she is given to a stranger, also durchaus patriarchalische Ordnung], wenn auch bei einzelnen Stämmen, wie bei den Saracenen Ammians, die umgekehrte Ordnung durchdrang (vgl. die Bemerkung über die arabischen Königinnen § 10 A.). Im Gegensatz dazu hebt der sogenannte Bardesanes (Philippos) bei Euseb. pr. ev. VI 10, 22 die strenge Forderung ehelicher Keuschheit bei den Frauen in Arabien, speziell in Osroene, hervor, die dann auf die islamische Kultur übergegangen ist. Im übrigen s. WELLHAUSEN, die Ehe bei den Arabern, Nachr. Gött. Ges. 1893. Nach Bochâri bei WILKEN S. 25f., WELLHAUSEN S. 460ff. hätten die heidnischen Araber vier Eheformen gekannt: 1. die später herrschende Ehe; 2. der Mann schickt seine Frau zu einem andern, um von diesem einen edlen Nachkommen zu erhalten [wie in Rom und Sparta, s.o.]; 3. Polyandrie, wo die Frau einem ihrer Männer das Kind zuweist; 4. Prostitution der Hetaeren, die als Abzeichen eine Fahne haben, oder die dann wie bei 3. ihr Kind durch einen Machtspruch einem der Männer zuweisen. Die vieldiskutierte, angeblich matriarchalische mot'a-Ehe, eine formlose Ehe auf wenige Tage, erklärt WELLHAUSEN S. 460ff. als eine von Mohammed (Sure 4, 28) eingeführte Verschleierung und Legitimierung der Prostitution. – Eine besondere Variation des Patriar chats ist die sabaeische Polyandrie, die Strabo XVI 4, 25 sehr korrekt und anschaulich schildert: »Die Brüder stehen höher in Ehren als die Kinder; das Königtum wird mit dem Erstgeborenen des Geschlechts besetzt (vgl. 4, 3), ebenso alle Ämter; der Besitz ist allen Verwandten gemein, das Verfügungsrecht steht dem Ältesten zu; auch haben sie alle zusammen nur éine Frau, wer zuerst kommt, stellt seinen Stock an die Tür und geht zu ihr ein; ... sie wohnt aber zu Nacht bei dem Ältesten. Daher sind alle Brüder von Allen [das ist natürlich übertrieben ausgedrückt und gilt nur von dem Geschlecht, γένος] und wohnen auch den Müttern bei; dagegen wird der Ehebrecher mit dem Tode bestraft, Ehebrecher aber ist, wer aus einem anderen Geschlecht stammt.«


12. Das Wesentliche ist jedoch, daß keine dieser verschiedenen Ordnungen als naturnotwendig, als aus einem angeborenen Gefühl des Menschen erwachsen betrachtet werden kann. Uns erscheint es unnatürlich, daß der Vater zu den Kindern kein rechtliches Verhältnis hat, daß selbst wenn ein dauerndes eheliches Zusammenleben sich entwickelt hat, nicht seine eigenen Söhne, sondern die seiner Schwester ihn beerben. Aber wo eine solche Ordnung besteht, gilt sie als[30] selbstverständlich und unverbrüchlich, und wenn sie dem Einzelnen widerstrebt, vermag er sich doch nicht dagegen aufzulehnen, ebensowenig wie da, wo ein Seniorat, die Erbfolge des ältesten Familiengliedes, oder umgekehrt ein Minorat, die Erbfolge des jüngsten Sohnes (bei dem dann die älteren Brüder in Dienst treten, so bei den Friesen) besteht. Umgekehrt bilden wir uns ein, daß die patriarchalische Ordnung, die Herrschaft des Vaters über seine Familie, eine natürliche Ordnung sei; ja es gibt Forscher genug, die glauben, daß die ausgebildete patria potestas, wie wir sie in Rom finden, etwas Selbstverständliches und die eigentliche Wurzel aller staatlichen Ordnung und des Staates selbst sei – auch Aristoteles hat so gedacht. In Wirklichkeit ist schon die höhere Ehrung des Alters, die sich nur zum Teil auf die durch Lebenserfahrung gewonnene höhere Einsicht stützt, die man dem Greise zuschreibt, keineswegs bei allen Völkern vorhanden; vollends aber läßt sich kaum etwas Unnatürlicheres ersinnen, als daß der erwachsene vollkräftige Mann, der selbst wieder Besitz und Familie hat, von einem schwachen Greis völlig abhängig ist, daß dieser nach Willkür über seinen Besitz, ja über seine Freiheit und sein Leben verfügt, ohne daß der Sohn sich zur Wehr setzen kann. Bei uns ist denn auch diese patriarchalische Familie vollständig verschwunden; und in bäuerlichen Verhältnissen ist es die ständige Regel, daß der Vater, wenn er ins höhere Alter eintritt, dem Sohne die Wirtschaft übergibt und sich auf das Altenteil zurückzieht, also gerade umgekehrt in ein oft sehr drückendes Abhängigkeitsverhältnis zum Sohne tritt. Bei roheren Völkern ist die Sitte weit verbreitet, daß die alten Leute, die nicht mehr arbeitsfähig sind, von ihren Kindern getötet, in manchen Fällen selbst verzehrt werden; und da gilt dies als eine geheiligte Sitte, der niemand sich zu entziehen versucht: »die Massageten preisen den glücklich, dem dies Ende beschieden ist, und beklagen die durch Krankheit Gestorbenen und daher Begrabenen, weil sie nicht zum Opfertod gelangt sind« (Herod. I, 216); für den Trogodyten ist es, wenn er alt geworden ist, Pflicht, sich [31] selbst zu erhängen, und wenn er sich sträubt, wird er von einem beliebigen Stammgenossen zur Rede gestellt und erdrosselt (Agatharch. V, 63 = Diod. III, 33, 5). Bei den Semiten ist die väterliche Gewalt meist sehr schwach; schon der Knabe hat z.B. bei den Arabern große Selbständigkeit, und bei den Israeliten (und vermutlich auch sonst) scheidet der erwachsene Sohn, wenn er ein Weib nimmt und damit einen eigenen Hausstand begründet, aus dem elterlichen Haushalt und der elterlichen Gewalt aus: »darum verläßt der Mann Vater und Mutter« (d.h. er scheidet aus ihrem Haushalt aus) »und schließt sich an sein Weib an« (gründet mit ihr einen neuen Haushalt), »so daß sie zu éinem Fleisch (Leib) werden« (Gen. 2, 24).


Gänzlich fern zu halten ist der Begriff der Blutschande, insofern er eine angeborene Abneigung des Menschen gegen bestimmte geschlechtliche Verbindungen bezeichnen soll. Auch diese Vorstellungen sind vielmehr erst im Verlauf der Entwicklung geworden und daher überall verschieden. Geschwisterehe ist bekanntlich weit verbreitet, und die Ehe mit der Mutter (die auch bei den Sabaeern – Strabo XVI, 4, 25 – und den Iren – Strabo IV, 5, 4 – überliefert ist) und der Tochter gilt der iranischen Religion als hervorragend heilig. Daher redet ein angebliches Citat aus Xanthos bei Clem. Alex. strom. III, 2, 11 von voller Promiscuität bei den Magiern. – Daß die alten Leute getötet werden, wird außer von den Trogodyten überliefert von Sardinien (Timaeos p. 171 GEFFCKEN, bei schol. Plat. rep. 337 c = Aelian v.h. IV, 1. Tzetzes ad Lycophr. 796), von den Tibarenern (Euseb. praep. ev. I, 4, 7), von den Kaspiern (Strabo XI, 11, 3. 8; Euseb. praep. ev. I, 4, 7), von den Herulern (Procop. Goth. II, 14, 2f.); daß sie von den Nachkommen verzehrt werden, von den Massageten (Herod. I, 216, vgl. Strabo XI, 8, 6), von den Kallatiern und Padaeern im inneren Indien (Herod. III, 38. 99), von Stämmen des indischen Kaukasus (Megasthenes bei Strabo XV, 1, 56), von den Derbikern am Kaspischen Meer (Strabo XI, 11, 8; Aelian v.h. IV, l; Euseb. praep. ev. I, 4, 7: nur die über siebzig Jahre alten Männer werden verzehrt, die alten Frauen gehängt und dann ebenso wie die früher gestorbenen begraben). Nach Strabo IV, 5, 4 hätten auch die Iren die Leichen der Väter verzehrt. Den Raubvögeln und Hunden werden die Leichen vorgeworfen von den Kaspiern (s.o.) und Baktrern, und zwar hier nach Onesikritos (Strabo XI, 11, 3; Euseb. 1. c., der auch die Hyrkaner nennt) die Alten und Kranken noch lebend. Daraus ist das bekannte Gebot der zoroastrischen Religion hervorgegangen (vgl. Justin 41, 3, 5[32] über die Parther); nach Agathias II, 23 war es auf Kriegszügen ganz gewöhnlich, daß Kranke noch lebend den Tieren überlassen wurden; ebenso Pseudo-Bardesanes bei Euseb. pr. ev. VI 10, 32. 46. Der Trogodytenstamm der Chelonophagen in Afrika wirft die Leichen ins Meer, den Fischen zum Fraß: Strabo XVI, 4, 14. Ueber gleichartige indogermanische und mongolische Sitten s. § 61. Die Sitte, daß die alten Leute freiwillig durch Gift aus dem Leben schei den, hat auch auf Keos geherrscht: Heracl. pol. 9, 5. Strabo X 5, 6. Aelian v.h. 3, 37. Val. Max. II 6, 8. – Das Gegenstück zu diesen Sitten ist einerseits die hohe Ehrung des Alters z.B. in Sparta und Rom oder bei den Albanern am Kaukasus (Strabo XI, 4, 8) oder bei den Australiern, andrerseits die sorgfältige Pflege und Bestattung der Leichen oder die feierliche Verbrennung. In allen diesen Dingen gibt es nichts, was für den Menschen allgemeingültig und naturnotwendig wäre, sondern νόμος, βασιλεύς. – Über die oft falsch gedeutete Stelle Gen. 2, 24 s.S. RAUH, Hebräisches Familienrecht in vorprophetischer Zeit, Berlin 1907. Daher ist hier die Einschärfung des Sittengebotes erforderlich, Vater und Mutter zu ehren: rechtliche Ansprüche haben sie in höherem Alter gegen die Kinder nicht mehr, wohl aber ahndet die Gottheit die ihnen angetane Kränkung.


13. Analog liegen die Dinge überall: von den verschiedenen an sich gleichberechtigten und gleich zulässigen Möglichkeiten hat der eine Stamm diese, der andere jene ergriffen und zu einer unverbrüchlichen durch die Sitte geheiligten Ordnung erhoben. Mit vollem Recht erläutert Herodot (III, 38) eben an den Bräuchen der Totenbestattung und Verzehrung der Eltern das pindarische Wort, daß die Sitte, das Herkommen, der König über alle ist; die Sophisten, vor allem Hippias, haben das an einem reichen ethnologischen Material weiter ausgeführt. So haben wir es auch in der Organisation des Geschlechtslebens und der Gestaltung der Familie – das Wort im weitesten Sinne genommen – keineswegs mit einem naturnotwendigen Gebilde zu tun, das als die Wurzel aller menschlichen Gemeinschaft, aller sozialen Verbände betrachtet werden könnte, sondern umgekehrt mit autoritativen Ordnungen, die innerhalb eines schon bestehenden sozialen Verbandes das Geschlechtsleben und die Stellung der Kinder einer festen Regelung unterwerfen. Diese Regelung entsteht und wirkt nicht spontan, kraft eines Naturtriebes – der führt nur zum ungeregelten Beischlaf, zum freien Geschlechtsverkehr –, [33] sondern sie wirkt durch die Sitte; und hinter dieser Sitte steht der äußere, staatliche Zwang. Wenn bei den Australiern der Geschlechtsverkehr streng geregelt ist, wenn Männer aus einer Gruppe A nur mit Frauen aus einer Gruppe B sich verbinden dürfen und umgekehrt, und die Kinder wieder bestimmten Heiratsklassen angehören, so ist das weder ein Produkt einer natürlichen Vorstellung, noch lediglich durch Gewohnheit aufrecht erhalten; sondern es ist ein Gesetz, dessen Befolgung von der Gesamtheit (oder von jedem beliebigen einzelnen Mitglied derselben) durch strenge Bestrafung jeder Übertretung erzwungen wird. Das gleiche gilt von der »mutterrechtlichen« und vollends von der patriarchalischen Familie. Das Pietätsgefühl und selbst die Sitte würden den römischen Bürger ebensowenig wie den Sklaven veranlassen, sich dem Hausgericht zu stellen oder vom Vater über den Tiber zu Fremden verkaufen zu lassen, und die physische Gewalt des Alten spielt hier vollends gar keine Rolle; durchführbar ist jede solche Ordnung nur dadurch, daß sie geltendes Recht ist und daß die Zwangsgewalt der Gesamtheit, d.h. des Staats, ihre unweigerliche Befolgung durchsetzt. Mit anderen Worten, jede derartige Ordnung setzt das Bestehen des wie auch immer organisierten staatlichen Verbandes voraus, der um vitaler Bedürfnisse willen eine bestimmte Regelung des Verkehrs der Geschlechter und der rechtlichen Stellung der Kinder erzwingt. Diese Regelung kann sehr verschieden ausfallen; aber ohne irgend eine solche Regelung könnte der Verband überhaupt nicht existieren. Die Geschlechtsverbände und die Familie sind daher nie anders gewesen, als wie sie uns in geschichtlicher Zeit überall entgegentreten: nicht selbständige Verbände, sondern Unterabteilungen des Staats. Der Staat ist nicht aus ihnen entsprungen, sondern sie sind vielmehr umgekehrt erst durch diesen geschaffen; und zwar scheint, soweit wir sehen können, die Zusammenfassung von einzelnen Gruppen innerhalb der Gesamtheit des Staatsverbandes als Brüderschaften, Heiratsklassen, Clans, Sippen älter zu sein als die Familie (und ihre [34] Erweiterung zum Geschlecht im engeren Sinne), die wieder erst innerhalb dieser kleineren Verbände entsteht. Wie sehr alle diese Verbände und geschlossenen Gruppen lediglich rechtliche Institutionen sind, geht schlagend daraus hervor, daß für sie alle die physische Blutsgemeinschaft, die Zeugung, gänzlich irrelevant ist: sie kann immer durch einen symbolischen rechtlichen Akt (Blutsverbrüderung, Adoption, Zeugung des Sohns durch einen Stellvertreter des Ehegatten) ersetzt werden. Trotzdem herrscht in der Idee allgemein die Vorstellung, daß alle diese Verbände auf realer Blutsgemeinschaft beruhen und daher Nachkommen eines gemeinsamen menschlichen Ahnen sind: denn dem mythischen Denken des naturwüchsigen Menschen liegt der Analogieschluß aus der Zeugung am nächsten, der alles Bestehende, die sozialen Verbände so gut wie die Gegenstände der Außenwelt, als durch Zeugung entstanden zu begreifen sucht. Damit verbindet sich die logisch total verschiedene, aber im Gefühl nicht gesonderte Vorstellung, daß jeder Verband von derjenigen Gottheit geschaffen oder gezeugt ist, die als der Urheber und Repräsentant seines dauernden Bestandes in ihm lebt und durch die er selbst lebt und existiert (vgl. § 53. 55). Diese Idee hat wie die alten Genealogen und Theoretiker, so auch zahlreiche moderne Forscher in die Irre geführt: sie nahmen als Realität, was nur in der Vorstellung der Menschen existiert. Viel höher steht dem gegenüber die Anschauung der Römer, die ihren Staat aus der freiwilligen Einigung freier Menschen unter dem Willen eines Gesetzgebers entstehen lassen. Das ist der Vorläufer des contrat social. Diese Anschauung geht nur darum in die Irre, weil sie die richtig erkannten Grundtriebe, welche in einem jeden staatlichen Verbande sich verwirklichen, in einen geschichtlichen Akt umsetzt und daher für den Staat einen einmaligen historischen Ursprung postuliert, während er einen solchen überhaupt nicht hat, sondern in seiner Urgestalt älter ist als der Mensch und die Voraussetzung aller menschlichen Entwicklung bildet.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 12-35.
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