Die semitische Religion

[399] 342. Auch dem Semiten ist die Welt nicht nur von Wesen von Fleisch und Blut bevölkert; sondern daneben stehen die mindestens eben so zahlreichen Scharen der Geisterwelt. In Berg und Fels, in Bäumen und Tieren, vor allem aber in der Einöde der Wüste hausen unzählige Gespenster und Dämonen (arab. ginn, ghûl u.a., vgl. die haarigen Bocksdämonen se'îrîm der Hebraeer, die phantastischen Tiergestalten Babyloniens u.ä.), die bald sichtbar, bald unsichtbar den Menschen schrecken und plagen und von denen alles Unheil kommt, vor allem die Krankheiten. Durch Zauber können sie dem Menschen dienstbar werden, aber auch in ihn fahren, ihn besessen machen; und schon in seiner eigenen Natur wohnt neben dem bewußten Willen eine derartige magische Kraft, die in der Wirkung unbedachter Worte und Handlungen und vor allem im bösen Blick sich äußert, und gegen die man sich, wie gegen die Geister, durch Amulette und Zauberworte oder Gebärden zu schützen sucht. Auch freundlich gesinnte Geister gibt es, die dem Menschen hilfreich beistehen. In unzähligen Vorzeichen, auf die der Mensch zu achten hat, spricht bald warnend, bald aufmunternd die magische, auf Willensakten der Geister beruhende Kausalität der äußeren Vorgänge zu ihm, die überall neben der mechanischen und von ihm bei seinen Handlungen berechneten Kausalität der Natur einhergeht und sie durchkreuzt. Oft treten diese Dämonen in Gruppen auf; vor allem die Siebenzahl gilt allen Semiten als eine geheimnisvolle Zahl, die daher bei magischen Sitten und Kultbräuchen, speziell bei Eidschwüren, vielfach verwendet wird. Die spätere babylonische Theologie hat sie dann gelegentlich benutzt, um Sonne und [399] Mond mit den fünf Wandelsternen zu der Einheit der sieben Planeten zusammenzufassen und diese als die das Schicksal beherrschenden Mächte gedeutet (§ 427); aber es ist ein Irrtum, wenn man die Heiligkeit der Siebenzahl aus dieser ganz sekundären Anschauung abgeleitet und in ihr eine Spur alten Sterndienstes gesehen hat. Derartige wissenschaftlich-theologische Spekulationen liegen den naturwüchsigen Vorstellungen noch ganz fern.


Über die Religion der Semiten s. vor allem WELLHAUSEN, Reste arabischen Heidentums (Skizzen und Vorarbeiten III, 1887) und das freilich von Einseitigkeiten nicht freie Werk von ROBERTSON SMITH, Lectures on the Religion of the Semites, 1889 (Die Rel. der Semiten, übers. von STÜBE, 1899); ferner NÖLDEKES Aufsätze über il Ber. Berl. Ak. 1880 und 1882 und seine Rezensionen ZDMG. 41, 707ff. 42, 471ff.; meinen Artikel Ba'al in ROSCHERS Mythol. Wb. (Nachtrag zu Bd. I), worin die älteren Artikel Astarte und El mehrfach berichtigt sind, sowie meine Israeliten und ihre Nachbarstämme. – Die Ableitung der semitischen Religionen aus Gestirndienst (Sabaeismus) kann wohl als erledigt gelten; über die Ableitung aus Totemismus und Ahnendienst bei R. SMITH, die STADE sogar für die israelitische Religion angenommen hat, s. §§ 55. 62.


343. Aus der Geisterwelt scheiden sich die Gottheiten (ilu, hebr. el, fem. ilât), die sich als dauernde, gleichmäßig wirkende Mächte sowohl in dem regelmäßigen Verlauf der Naturerscheinungen wie vor allem im Leben der Menschen offenbaren (§ 50ff.). In Sonne und Mond und den Gestirnen des Nachthimmels haben Gottheiten ihren Sitz, die ihren Kreislauf und den Wechsel der Jahreszeiten geordnet haben. Aber auch auf der Erde hausen zahlreiche göttliche Mächte in Felsblöcken und Bergen, in Quellen und vor allem in grünenden Bäumen, die umsomehr als Sitz einer Gottheit gelten, je seltener sie sind und je stärker man daher ihr geheimnisvolles Eigenleben empfindet. Auch in manchen Tieren offenbart sich ein göttliches Wesen, vor allem in Schlangen; daneben finden wir bei mehreren arabischen Stämmen einen Geiergott Nasr, und in Palaestina und Syrien des Kultus von Stieren, Tauben, Fischen, oder in einem Gottesbaum bei Bet-el [400] (Jud. 4, 4f.) ein Numen Debora »die Biene«; doch ist der Tierdienst bei den Semiten niemals so stark entwickelt worden wie z.B. bei den Aegyptern und den Griechen. Dagegen lebt in jedem menschlichen Verbande, und vor allem in dem alle anderen umfassenden Verbande des Stammes eine göttliche Macht, auf der seine Existenz und sein dauernder Bestand beruht: sie ist nicht nur im Leben mit ihm identisch, sondern geht auch mit ihm zu Grunde, da sie eben nur durch ihre Verehrer Existenz hat wie diese durch sie-eine Anschauung, die uns z.B. in der Assyrerzeit bei den Staaten Syriens und Palaestinas ganz allgemein entgegentritt. Daher ist der Eigenname der Stammgottheit mehrfach mit der des Stammes identisch, ohne daß man dem einen oder dem anderen die Priorität zuschreiben dürfte: sie sind eben beide mit einander unmittelbar und untrennbar gegeben. So in typischer Weise bei Assur (wo dann auch Stadt und Land denselben Namen trägt); ebenso haben die Amoriter einen gleichnamigen Stammgott Amuru (§ 396), und auch die Stammnamen Edom und Gad sind zugleich Gottesnamen. In der Regel freilich hat der Stammgott überhaupt keinen eigentlichen Namen, sondern ist für seine Verehrer »der Gott« (ilu) schlechthin; und dann entwickelt sich wohl ein Eigenname aus seiner Wirkung-'Uzza »die mächtige«, Manât »Anteil, Schicksal«, Gad »Schicksal«, Abrâm »der erhabene Vater«-oder seiner Erscheinungsform, wie Nasr »Geier«, Šams »Sonne«. Sehr oft ist dieser Name ein Aussagesatz über diejenige Eigenschaft, in der das Wesen des Gottes besonders hervortritt: Jaghûth »er hilft«, Ja'ûq »er bewahrt«, Jiṣchâq (Isaak) »er lacht«-wohl mehr das furchtbare Hohnlachen über die Feinde, als ein gnädiges Lächeln, denn dieses Numen des »Siebenbrunnens« (oder »Schwurbrunnens«) Be'eršeba' im Wüstengebiet südlich von Palaestina (Amos 8, 14) führt auch den Kultnamen »der Schrecken Jiṣchâqs« (קחצי דחפ, Gen. 31, 42. 58) –; ferner Ja'qôb »er überlistet« u.a.; auch Jahwe (»er weht«?), der Name des feurigen Vulkangottes vom Sinai in Midian, in dem Vulkangebiet östlich vom Golf von Aila, [401] ist gleichartig gebildet. Bei den Stämmen im Süden und Osten Palaestinas wird aus derartigen Bezeichnungen vielfach weiter der Stammname gebildet: Jišma'-el »der Gott (El) hört« (oder »er hört ist El«), Jisra-el »der Gott streitet«, Jerachm-el »der Gott erbarmt sich«; in Palaestina selbst kommen sie nur als Ortsnamen vor: Ja'qob-el »der Gott überlistet«, Jezra'-el »der Gott sät«, Jabne-el »der Gott läßt bauen«, Jiphtach-el »der Gott öffnet [das Tal]«, während sie bei den Amoritern und in Südarabien [dagegen nicht bei den Israeliten und Phoenikern] als Personennamen erscheinen. Wie der Stamm als ganzes wird auch der einzelne Mensch durch seinen Namen mit der Gottheit in Verbindung gesetzt; bei allen Semiten (speziell den Amoritern in Babylonien, den Phoenikern, den Israeliten und ihren Nachbarn, den Nordarabern, den Sabaeern und Minaeern) sind Personennamen wie »El ist gnädig«, »erhaben«, »mächtig« »segnet«, oder »Gabe Els«, »Gnade Els«, »Auge Els«, »Name Els« ganz gewöhnlich. Besonders charakteristisch sind diejenigen Namen, welche den Menschen in ein verwandtschaftliches Verhältnis zur Gottheit setzen, als Sohn, Bruder, Schwester, aber auch als Vater und Schwiegervater; da steht die Gottheit zu dem Einzelnen nicht anders als die nächsten Blutsverwandten, unter deren Schutz er aufwächst und gedeiht.


Über das Verhältnis der Stammnamen zu den Gottesnamen und ihre Umwandlung in die Patriarchen des Alten Testaments s. meine Israeliten S. 249ff. 293ff.; über Isaak ib. S. 253ff. [Die Angabe S. 297, daß der Name des Volks der Gutaeer im Zagros zugleich Gottesname sei, beruhte auf falscher Übersetzung der Inschrift Z. Ass. IV 406; es ist vielmehr mit THUREAU-DANGIN, Sumer. u. akkad. Königsinschr. S. 170f., »die beiden Götter der Guti, Istar und Sin« zu übersetzen. Dagegen liegt die Identität des Gottes-und Stammnamens wahrscheinlich auch in dem Gott der Araber der Sinaiwüste Οροταλ(τ) Herod. III 8 = Wadi Gharandel Ἀρίνδηλα, Γαρινδανεῖς vor, Isr. S. 101.]-Sehr wichtig auch für die semitische Religion ist die Bearbeitung der (großenteils amoritischen) Personennamen der 1. Dynastie von Babel durch H. RANKE, Early Babyl. personal Names (Bab. Exped. Series D, III. Philadelphia 1905), vgl. § 436. Die Namen, welche eine Person in ein Verwandtschaftsverhältnis zur Gottheit setzen, bedürfen dringend einer umfassenden [402] Sonderuntersuchung, die manche wertvolle Aufklärung verspricht; in späterer Zeit sind sie offenbar ganz schematisch gebildet worden, aber zu Grunde liegt eine uralte und realistische religiöse Vorstellung.


344. Das wesentliche bei der Gottheit ist aber nicht ihr Name-der kommt als ein unentbehrliches Moment nur in Betracht, wenn man sie wie die Gespenster zum Zauber benutzen will –, sondern ihre ununterbrochene, lebenspendende Wirkung und ihre Macht. Sie ist der »Herr« (allgemein semitisch rabb, aram. mâr, daher marna von Gaza »unser Herr«, phoenikisch und hebraeisch adôn, Adonis), und bei den Amoritern, Phoenikern und Hebraeern und ihren Verwandten auch der »König« (Melek, fem. Malkat). Sie lebt in voller Gemeinschaft mit den Menschen, nimmt Anteil an ihren Mahlzeiten, ihren Beratungen und Kämpfen, und erhält eine Gabe von allem, was sie gewährt, dem Ertrag der Jagd, der Kriegsbeute, dem Wurf des Viehs, und, bei seßhaften Stämmen, der Frucht der Felder. Zu bestimmten Zeiten werden ihre große Feste gefeiert, so bei den Israeliten das echt nomadische Frühlingsfest des Passaḥ, bei dem ihr die Erstgeburt der Lämmer geschlachtet wird: das Fleisch wird zur Nacht von den Familien verzehrt, während Jahwe draußen umgeht, das an die Pfosten der Wohnungen (ursprünglich der Zelte) geschmierte Blut zu schlürfen. Sonst ist der Gott zugegen in dem Steinkegel (kan. maṣṣeba) und dem Holzpfahl (ašera), den man ihm aufrichtet, und in dem Tisch (Altar) aus Erde oder Feldsteinen, auf dem er die Opfer erhält. Das Leben, das er spendet, sitzt im Blut; dies ist daher ihm heilig, und wird ihm beim Opfer dargebracht, auf die Erde oder den Opferstein gegossen. Zugleich aber ist das Mahl oder Opfer im Stammesleben dasjenige Moment, wodurch die friedliche Gemeinschaft der Menschen immer von neuem begründet wird: beim Mahl herrscht Friede, und auch der Fremde, ja der mit Blutschuld Belastete ist unantastbar, sobald er vom Mahl genossen hat, es begründet das geheiligte Gastverhältnis. So schafft es auch eine Gemeinschaft, eine Blutsverwandtschaft [403] zwischen den Stammgenossen und der Gottheit. Daher wird der heilige Stein mit Blut beschmiert und dadurch zugleich die Verpflichtung der Gottheit, dem Stamm zu helfen, immer von neuem begründet. Beim Vertragschluß ritzen die Araber der Sinaihalbinsel die Mittelfinger der Kontrahenten und schmieren das Blut mit Fäden aus ihren Gewändern auf sieben heilige Steine (Herod. III 8), um so die Gottheit in den Vertrag aufzunehmen und zu zwingen, den Meineidigen oder Eidbrüchigen zu strafen. Daraus kann sich weiter die Anschauung entwickeln daß das Verhältnis zwischen dem Stamm und der Gottheit überhaupt auf einem Vertrage beruht. So schlossen die Bnê Chamôr in Sichem alljährlich einen neuen Vertrag mit ihrem Gott, dem »Vertragsgott« El brît oder Ba'al brît-brît »Vertrag« ist wahrscheinlich ursprünglich einfach das »Mahl« –, indem sie das Opferblut teils auf die Altarsteine schmierten, teils das Volk damit besprengten und dabei bestimmte Verpflichtungen, Gebote der Gottheit, auf sich nahmen (Israel. S. 533ff.); und diese Sitte, die bei den Arabern vielfache Analogien hat, ist von den Israeliten übernommen worden und hat die Ausbildung ihrer religiösen Anschauungen wesentlich beeinflußt. – Auch der Lebensodem ist von der Gottheit gegeben-eine namentlich von den Phoenikern und Israeliten weiter ausgebildete Anschauung –; und weit verbreitet ist der Glaube, daß nicht nur der menschliche Ahnherr, sondern die Gottheit selbst die Menschen gezeugt hat. Nach den Propheten sind Israel und Juda die Söhne Jahwes-eine Vorstellung, die ursprünglich nicht symbolisch, sondern ganz realistisch zu verstehen ist –, und nach israelitischem Volksglauben (Jerem. 2, 27) stammen die Menschen von Baum und Fels, d.h. von den Objekten, in denen die Gottheit sich manifestiert, wie bei den Griechen. Dazu stimmen die schon besprochenen Namen, welche das einzelne Individuum zum Blutsverwandten der Gottheit machen (§ 343).

345. Von den Betätigungen des Menschen trägt besonders das Geschlechtsleben einen geheimnisvoll-religiösen Charakter. Der Geschlechtsakt wird daher als eine sakrale Handlung aufgefaßt, [404] die besonderer Weihen und Reinigungszeremonien bedarf. Daraus hat sich bei den seßhaften Nordsemiten überall, besonders aber in Babylonien und Phoenikien, mit der Steigerung der Kultur eine religiöse Prostitution entwickelt, welche von den Töchtern des Volks die Hingabe der Jungfrauschaft als Opfer an eine große Göttin des Geschlechtslebens fordert; vielleicht hat dabei jedoch ein Kultus nördlicher Stämme eingewirkt, da wir dieselbe Sitte in Armenien und bei den Lydern wiederfinden. Auch männliche Prostitution geht daneben einher; und die Kehrseite dazu ist die sakrale Entmannung, die wohl sicher von Kleinasien aus nach Nordsyrien gedrungen ist. So ist es sehr fraglich, ob wir derartige Sitten den echten Semiten zuschreiben dürfen; denn daß es bei allen Stämmen gewerbsmäßige Prostituierte gibt, gehört natürlich nicht hierher. Auch die Weihe des männlichen Geschlechtsgliedes durch Beschneidung vor Eintritt der Pubertät scheint nicht ursemitisch, sondern, entsprechend der Tradition Josua 5, 9 und Herod. II 104, von Aegypten aus zu den Hehraeern und Phoenikern (vgl. Aristoph. av. 507) gedrungen zu sein; von hier aus hat sie sich zu den Arabern verbreitet (bei denen in der Regel auch die Töchter beschnitten werden, wie auch in Afrika vielfach), kommt dagegen, soweit wir wissen, weder bei den Babyloniern noch bei den Aramaeern vor. – Daneben finden sich viele Sitten in Tracht und anderen Bräuchen, die als geheiligt und von den Göttern gefordert gelten; manches Derartige ist allen Wüstenstämmen gemeinsam, wie das Rasieren des Schnurrbarts, während sie sich in dem Schnitt des Haupthaars unterscheiden; ebenso z.B. das Tragen von Nasen-und Ohrringen, die Gebote kultischer Reinheit, die Enthaltung von bestimmter Nahrung, wie dem Schweinefleisch, u.ä.


Über Haar und Bart der Semiten s. meine Sumerier und Semiten in Babylonien S. 20ff. Im Alten Testament werden diese Sitten und ihre Beziehung zum Kultus oft erwähnt; ebenso Herod. III 8 und Choerilos bei Jos. c. Ap. I, 138, vgl. Jerem. 25, 23 = 9, 25. 49, 32; Lev. 19, 27, und in arabischen Nachrichten.


[405] 346. Die Gottheiten werden teils männlich (il), teils weiblich (ilât) gedacht, und in letzterem Falle oft auch mit dem Wort 'athtar (bab. ištar, kan. 'aštar, 'aštart, aram. 'attar) bezeichnet, dessen Etymologie noch nicht aufgeklärt ist, das aber eine spezielle Beziehung zur Fruchtbarkeit und Zeugung zu haben scheint und daher die Göttin vielleicht als die Macht des zeugenden Natur- und Geschlechtslebens bezeichnet. Sekundär sind Ilât (mit Artikel Al-ilât Herod. III 8; I 131 verschrieben Ἄλιττα; in Palmyra [so im Namen Wahb-allât], in Ṭâif und sonst vielfach bei den Arabern zu Allât kontrahiert) und bei den Phoenikern Astarte zu Eigennamen bestimmter Göttinnen geworden. Im übrigen hat das Geschlecht der Gottheit für die religiösen Vorstellungen der Wüstenstämme (bei den seßhaften Semiten ist das anders geworden) gegenüber dem homogenen Wesen der göttlichen Macht geringe Bedeutung: es ist sehr bezeichnend, daß 'Athtar in Südarabien ein männlicher Gott geworden ist, während umgekehrt die Sonne (Šams) bei den Nordsemiten fast überall männlich, in Arabien dagegen weiblich ist; im Hebraeischen schwankt, der Mittelstellung der Israeliten entsprechend, ihr Geschlecht.


Über il vgl. NÖLDEKE, Ber. Berl. Ak. 1880. 1882. Die frühere Annahme, es habe einen semitischen Gott namens Il(u) gegeben, war irrtümlich. Auch bei den Phoenikern gibt es einen Gott Ἦλος im Kultus so wenig wie einen Gott Ba'al; das ist lediglich Mißverständnis des abkürzenden populären Sprachgebrauchs, der den eigenen Sondergott kurzweg mit diesen Appellativen bezeichnet. Nur bei den Aramaeern von Sendjirli ist El (לא) zum Namen eines bestimmten Gottes (neben Hadad, Rkb-el, Ršp u.a.) geworden. Dagegen ist Ilât auch bei den Phoenikern Eigenname einer Göttin. – 'Aštart als Appellativum findet sich bekanntlich Deut. 7, 13. 26, 4. 18. 51 in einer stereotypen, wahrscheinlich aus kultischen Segensprüchen stammenden Formel für den Wurf [oder die Muttertiere?] des Kleinviehs gebraucht; somit ist 'Athtar wohl ursprünglich die gebärende Göttin (wie sie in den bekannten babylonischen Terrakotten dargestellt wird). Entsprechend bezeichnet 'aththarî in arabischen Traditionen das bewässerte Land: WELLHAUSEN, Skizzen III 170. R. SMITH, Religion der Semiten 70f. Daneben steht das von Ba'al, d.h. dem Grundwasser des Erdbodens, getränkte Land (R. SMITH l.c.); hier ist also Ba'al der Erdgott wie bei den Babyloniern; so liegt [406] wohl zweifellos Entlehnung vor. – Bezeichnet das Wort daud in der Bedeutung von Numen Amos 8, 14. Meša' Zl. 12, vgl. Jes. 5, 1, die Gottheit als den »Geliebten«, und ist der arabische Gott Wadd ebenso zu erklären?


347. Bei den Nomaden wandert die Gottheit in der Regel mit dem Stamm; sie nimmt an seinen Kämpfen teil und mag sich dann im Panier oder der Standarte verkörpern (םנ, Exod. 17, 15), dem sichtbaren Zeichen der Stammeseinheit, um das die Krieger sich scharen. Die Israeliten führen einen verzierten Kasten, in dem wahrscheinlich ein Fetischstein lag, in den Kampf, den »Kasten Jahwes« (später in die sogenannte Bundeslade umgewandelt); auf ihm nimmt die Gottheit ihren Sitz, wenn der Stamm sich lagert (Num. 10, 35f.). In anderen Fällen dagegen hat die Gottheit einen festen Sitz in einem Baum oder Fels oder z.B. Jahwe in dem Sinaivulkan in Midian und dem von einem Erdfeuer umgebenen Dornbusch von Qadeš im Norden der Sinaihalbinsel. Da die Gottheit immer verschiedene Gestalten annehmen und an verschiedenen Stätten zugleich sein kann (§ 56), vertragen sich beide Anschauungen meist leicht mit einander-die Israeliten dagegen haben entweder den Ausweg ergriffen, daß der Gott vom Sinai ihnen im Kampf zu Hilfe eilt (so im Deboralied), oder daß er ihnen einen Abgesandten (Mal'ak) als Delegierten mitgegeben hat, der in Palaestina seinen Wohnsitz nimmt. Mit der Seßhaftigkeit wird dann auch die Gottheit seßhaft und verschmilzt mit dem Boden, wie ihr zum Volk und Staat erwachsender Stamm. Da wird dann die Stätte, an der sie haust, die Hauptsache; an sie knüpfen die heiligen Handlungen, Festzüge und Opfer. Zu dem Stein und dem Baum, in dem sie sitzt, kommt dann vielleicht noch ein Gottesbild und ein Gotteshaus (Tempel) hinzu-das ist zu den Arabern und ihren Nachbarn wohl überall erst mit den anderen Kulturelementen aus der Fremde, aus Aegypten und Babylonien, gedrungen. Die seßhafte Gottheit wird dann nach ihrer Wohnstätte als deren »Inhaber« bezeichnet, südsemitisch dhû, fem. dhât, nordsemitisch Ba'al, Ba'alat, mit hinzutretendem Genitiv [407] der Lokalität (gelegentlich auch einer Eigenschaft): »der [die] von Saraj, vom Libanon, von Tyros oder Byblos« usw. – analog ist »die Göttin (ištar) von Ninive oder Arbela« oder »die Astarte von Sidon«. In der Bezeichnung als Ba'al oder Ba'alat einer Stätte tritt das Eigentumsrecht an derselben schon stärker hervor-das Wort bezeichnet zwar [außer im Babylonischen] nicht den »Herrn« schlechthin, etwa im Gegensatz zum Sklaven, wohl aber z.B. den Ehemann als Besitzer der Gattin –; das Wort scheint als Gottesbezeichnung erst mit seßhafter Kultur aufzukommen und hat eine bestimmte Beziehung nicht mehr zum Stamm, sondern zum Boden. Daher wird es zwar sehr oft zur Bildung von Personennamen verwendet, aber niemals zur Bildung von Stammnamen. Im übrigen ist für ihre Verehrer die Gottheit der Örtlichkeit »der Ba'al« oder »die Ba'alat« schlechthin (wie bei il, ilât, 'aštart, und auch bei den Gottesbeinamen Adôn, Melek, Malkat, die alle niemals Eigennamen von Einzelgöttern sind). Dadurch ist der Schein entstanden, als habe es einen bestimmten semitischen Gott Ba'al oder Ba'alat (Baaltis; analog der angebliche El der Phoeniker) gegeben, während es deren eben so viele gibt wie Kultobjekte. Erst ganz sekundär hat sich aus dem Beinamen »Herr der Länder (bêl matâti)«, den der babylonische (sumerische) Gott Ellil von Nippur führt, und der später auf den Marduk von Babel übertragen wurde, ein wirklicher Gottesname Bêl entwickelt, der dann zu den Assyrern und weiter zu den Aramaeern gedrungen ist.


Das Wort ba'al ist in der Bedeutung »Ehemann« gemeinarabisch, während seine sonstigen Bedeutungen dem Nordarabischen fehlen; dagegen ist es im Südarabischen und Aethiopischen als Appellativum lebendig, und wird hier auch nicht selten, wie dhû, dhât, in Verbindung mit dem Genitiv der Kultusstätte gebraucht. – Die griechische Aussprache Βῆλος ist gewiß nicht die babylonische Form bêl oder das aramaeische b'el, sondern die ionische Form des kana'anaeischen Ba'al. (Vgl. auch § 346 A.)


348. An die Hauptgötter der Stämme schließen sich zahlreiche weitere göttliche Mächte, teils ihr Gefolge, das (wie [408] bei Jahwe) als ihr »Heer« mit ihnen in den Kampf zieht, teils z.B. die Schutzgottheiten der Geschlechter und Familien (wie die Teraphîm der Israeliten). Wenn mit der Seßhaftigkeit die religiösen Bedürfnisse sich steigern und zugleich zersplittern, wächst ihre Zahl. Da sitzt eine Gottheit »auf jedem hohen Berge und unter jedem grünen Baum«, in unzähligen heiligen Steinen (bet-el »Gotteshaus«), in manchen Tieren, wie den Schlangen. Auch kann eine Gottheit sich weiter differenzieren: so sind bei Phoenikern und Amoritern aus den Steinkegeln und Holzpfählen am Altar besondere Götter geworden, wie Ba'al-chammân »Herr des Steinkegels und die Ašera (Ašrat) der Amoriter (§ 396). Dazu kommen dann die Gottheiten, die man in einem eroberten Gebiet vorfindet, oder die aus der Fremde eindringen (vgl. z.B. Bd. III, 87). Vielfach werden die kosmiscḥen Mächte verehrt, sei es, daß sie zugleich als Stammgottheit gelten, sei es, daß sie neben diese treten, so die Sonnengöttin oder der Sonnengott (§ 346), ferner der Mond, an dessen Phasen bei den Semiten wie bei den Aegyptern (§ 188) überall Opfer und Festfeiern knüpfen – vielleicht ist auch der Name Sin ursemitisch, unter dem der Mondgott in Babylonien und Mesopotamien (Charrân) seit alters verehrt wird, und der auch bei den Amoritern heimisch gewesen zu sein scheint und in Südarabien wiederkehrt. Weit verbreitet ist der Kult eines Himmelsgottes, sabaeisch Dhû samawi, kan. Ba'al-šamaim, aram. Be'elšamain; wenn bei den semitischen Babyloniern (Akkadiern) und den Assyrern neben dem Sonnengott Šamaš der Himmelsgott Anu eine weit größere Bedeutung gewonnen hat, als bei den Sumerern, von denen sein Eigenname entlehnt ist, so tritt darin die semitische Religion in fremdem Gewande deutlich zu Tage (§ 392). Gelegentlich findet sich statt seiner eine Himmelsgöttin, so bei dem arabischen Stamm der Qedraeer in der syrischen Wüste, der an Stelle älterer aramaeischer Stämme getreten ist, die aramaeische Göttin Atar-šamain die »Göttin des Himmels«, die der phoenikischen »Astarte des Himmels Ba'als« in Sidon entspricht. Oft wird der Stammgott selbst zum Regenten [409] der Welt, der sich dann speziell im Himmel, in der Sonne und namentlich im Gewitter manifestieren mag, wie Jahwe in Israel oder Hadad bei den Amoritern (§ 396); und dann mag sein Gefolge in den Sternen erscheinen, wie das Himmelsheer Jahwes im Deboralied. Im allgemeinen aber tritt auch in den späteren Stadien noch der unterscheidende Name der Gottheit durchaus zurück hinter der aus dem einzelnen Kultobjekt wirkenden individuellen göttlichen Macht; ob diese mit dem Stammgott identisch oder ein neben und unter ihm stehendes Wesen ist, fragt man kaum. So verschmelzen die unzähligen Götter des Pantheons vielfach zu der Einheit »die Götter« schlechthin (hebr. ha-elohîm, phoen. alonim, sabaeisch il-ilât), und bei den Israeliten ist diese Bezeichnung geradezu synonym mit dem Individualnamen des Stammgottes Jahwe geworden.


Ataršamain (assyrisch geschrieben natürlich –samain): Keilinschr. Bibl. II 214. 220. 222. ZIMMERN, KAT. 434. – Über םיהלא Israeliten S. 211f.


349. Durch die Ordnung des Kultus, das Opfermahl und die sonstigen Gaben, sowie die Befolgung der Ritualvorschriften ist das Verhältnis der Gottheit zum Stamm geregelt. Als Gegenleistung erhält sie den Stamm und seine Ordnungen und verschafft ihm den Sieg über alle seine Feinde, die zugleich ihre eigenen Feinde sind (vgl. z.B. Exod. 17, 16 »Krieg ist zwischen Jahwe und 'Amaleq von Generation zu Generation«; ebenso Sam. I 30, 26) – es sei denn, daß ihr ein stärkerer Gott gegenübersteht, den sie nicht bezwingen kann. Aber wenn sie durch ihr eigenes Interesse an ihre Verehrer gebunden und ihnen daher in der Regel gnädig gesinnt ist wie ein König, so hat sie auch ihre Launen wie dieser; sie ist ein unheimliches Wesen, dem man nur mit Scheu nahen kann, und furchtbar ist ihr Wüten, wenn der Grimm sie erfaßt. Bei keinem semitischen Gotte treten diese finsteren Seiten stärker hervor als bei Jahwe, dem Feuergotte vom Sinai und vom Dornbusch bei Qadeš. Sein Anblick bringt den Tod, es sei denn, daß er sich einmal einem begnadeten Liebling offenbaren [410] will; wenn er des Nachts umgeht, lechzt er nach Blut-beim Passaḥfest schützt man sich dagegen durch Blutzauber (§ 344) –; wenn seine Nüstern im Zorn schwellen, geht eine Flamme von ihm aus (z.B. in Epidemien) und verzehrt, wen sie erfassen kann, bis seine Wut gesättigt ist. Eifersüchtig wacht er über seiner Machtsphäre, er kann es nicht dulden, daß einem anderen Gotte gegeben wird, was ihm zusteht. Gleichartige Züge treten uns bei vielen semitischen Göttern entgegen, z.B. bei den phoenikischen Göttern oder bei Marduk, dem Herrn von Babel, und noch im Allâh der Mohammedaner bilden sie einen Grundzug seines Charakters. Durch außerordentliche Mittel, Kasteiungen und Opfer sucht man sich gegen solche Ausbrüche zu schützen und den Gotteszorn abzulenken, vor allem durch Menschenopfer, die auch bei den Arabern nicht selten sind. Namentlich gefangene Feinde, schöne Knaben und Mädchen, bringt man ihm dar; und wenn die Stammfehde zu einem erbitterten Kampf ausartet, wird die gesamte Beute ihm geweiht und alles was Odem hat, Menschen und Vieh, bis auf das letzte Lebewesen »dem Gotte zur Augenweide« abgeschlachtet. Mit der Kultur steigert sich die Brutalität der Religion (§ 66ff.); die Kriege der Israeliten und Aramaeer, der Assyrer und Karthager sind durch eine wilde religiöse Barbarei charakterisiert, die in der Kulturwelt des Altertums sonst nicht ihresgleichen findet-wohl aber hat sie sich auf die Religionskriege der Christen vererbt –, dagegen lebhaft an die Mexikaner und andere Indianer erinnert. Bei den kana'anaeischen Völkern ist die höchste Gabe an die Gottheit das Opfer des herangewachsenen Sohnes, vor allem des Erstgeborenen, das die Karthager in Notlagen noch zu Ende des vierten Jahrhunderts dargebracht haben; bei den Israeliten wird es damit motiviert, daß der Anspruch Jahwes auf den ersten Wurf des Viehs und, beim Übergang zum Ackerbau, die Erstlinge der Feldfrucht, auch auf die Erstgeburt der Menschen ausgedehnt wird. Auch die Ausbildung der religiösen Prostitution und die Selbstentmannung (§ 345) gehören in diesen Zusammenhang.

[411] 350. Daneben geht die kulturfördernde Wirkung der Gottheit einher. Die Satzungen, unter denen die Menschen im sozialen Verbande leben, sind von ihr geschaffen und offenbart, die Rechtsordnung steht unter ihrem Schutz, sie gibt in zweifelhaften Fällen untrügliche Weisung durch Orakel, sie fordert äußere und innere Reinheit und Befolgung der Moralgebote. Was den Inhalt der sittlichen Anschauungen eines Stammes ausmacht, gilt als ihr Wille, dessen Verletzung sie ahndet. So schlägt sich in der Religion zugleich der Fortschritt der Kultur nieder; was die geläuterte Anschauung fordert, gilt als das ursprüngliche Gebot der Gottheit, von dem man zu Unrecht abgewichen ist. Darin differenzieren sich zugleich die Anschauungen der einzelnen Kulte und ihrer Stämme. So ist die religiöse Prostitution der Mädchen und Knaben (Qadêšen) in weitem Umfang auch in den Jahwekult eingedrungen; aber siegreich setzt sich dem gegenüber die Anschauung durch, daß Jahwe sie als unsittlich verwirft und auszutilgen gebietet. Überhaupt ist ihm alles zuwider, was den natürlichen Ordnungen widerspricht; das hat nicht nur das Verbot der Kastration erzeugt, sondern auch so seltsame Vorschriften, wie daß z.B. das Zicklein nicht in der Milch der Mutter gekocht und verschiedene Tiere nicht an dasselbe Joch gespannt werden dürfen. – Den Inhalt des Rituals und der göttlichen Satzungen, die Kunst, die Orakel zu befragen und die Vorzeichen zu deuten, bewahrt die Tradition; sie ist vor allem den Häuptern der angesehensten Geschlechter eigen. Vielfach aber ist eine Kultusstätte im Besitz einer einzelnen Familie, die den Gottesdienst leitet und allein seine Ordnungen kennt, also ein erbliches Priestertum besitzt, so z.B. in dem »Palmenhain« (Phoenikôn) bei Ṭôr an der Westküste der Sinaihalbinsel (Agatharchides bei Diod. III 42). Außerdem gibt es Männer und Frauen, die unmittelbar vom Geist der Gottheit erfaßt werden und ihren Willen verkünden (»Seher«, kâhin), und die dann ihr Wissen auf ihre Nachkommen oder auf Gehilfen und Schüler vererben mögen. Solche Gestalten treten immer von neuem vereinzelt auf, durch direkte Inspiration; [412] aber daneben kann sich auch ein geschlossener Priesterstand bilden. Einen solchen finden wir z.B. bei dem Jahweheiligtum am Dornbusch zu Qadeš (§ 347), im Gebiet des Stammes Lewi; hier haben die Priester nicht nur eine führende Stellung im Stamm als Kenner der Rechtssatzungen und Interpreten der Orakel der Gottheit, sondern besitzen große Autorität auch bei den Nachbarstämmen, deren Streitigkeiten sie beim »Prozeßquell« ('ain merîba oder 'ain mišpât) schlichten. Sie erzählen, daß ihr Ahnherr Mose die Geheimnisse des Losorakels und der Satzungen des Rechts und Rituals dem widerstrebenden Gotte im Ringkampf abgewonnen und auf seine (fiktiven) Nachkommen vererbt habe. Derartige Heiligtümer von weit verbreitetem Ansehen an einem Quell, wo die verschiedenen Stämme friedlich zusammen kommen und das Gottesfest zugleich ein Jahrmarkt ist-auch die Heilkraft der Quelle lockt häufig Besucher an –, finden sich in der Wüste vielfach; und nicht selten mögen sich gleichartige Satzungen und Erzählungen daran angeschlossen haben. Auch das spätere Ansehen von Mekka mit seiner Messe und seinem heiligen Stein, der Ka'ba, beruht auf derselben Grundlage. – Daneben offenbart die Gottheit ihren Willen gelegentlich auch jedem anderen in Vorzeichen, wenn er nur versteht, sie richtig zu erkennen. Weit verbreitet ist die Anschauung, daß in den Verrückten und Besessenen mit ihrem widersinnigen Tun und Reden der göttliche Geist sich geheimnisvoll offenbart; daraus hat sich bei den kana'anaeischen Stämmen das Prophetentum entwickelt.


Über die Lewiten von Qadeš und die anschließenden Sagen s. meine Israeliten S. 51ff. – Dem hebraeischen kôhen, »Priester« entspricht bekanntlich arabisch kâhin in der Bedeutung »Seher« (hebr. ro'e Sam. I 9, 9, daneben chôze = arab. ḥâzi, so auch in der Inschrift des Zakir von Ḥamât, POGNON, Inscr. sémit. p. 167, der die Verheißungen des Be'el šamain «durch die Hand der ןיוח und die Hand der ןדדע [Bedeutung unbekannt]» erhält). WELLHAUSEN, Skizzen III 130ff., hält die Bedeutung »Priester« für die ältere. Aber es ist nicht wahrscheinlich, daß die Institution des Priestertums bei den Wüstenstämmen ursprünglich ist, während es inspirierte Seher wie die Kâhins immer gegeben haben [413] muß. Mit dem Fortschreiten der Kultur dagegen wird ein Priestertum unentbehrlich; bei den Israeliten sehen wir es im Zusammenhang mit dem Gottesbild und dem Tempel entstehen. Da ist es begreiflich, daß sich die Seher in angestellte regelrechte Gottesdiener wandelten und der alte Name auf diese überging; auch bei diesen ist ja die Kunst des Orakelerteilens eine der wichtigsten Aufgaben. Für diese Auffassung spricht auch, daß Lewiten von Qadeš mit ihren festen religiösen Traditionen eben nicht kôhen heißen, sondern der Name Lewi in Konkurrenz mit diesem auftritt, bis schließlich beide identifiziert werden.


351. Auch im Menschen sitzt ein göttliches Element, die Seele oder der Lebensodem (rûach, nepheš), den die Gottheit ihm eingeblasen hat. Aber er lebt nicht ewig wie diese; mit dem Tode verläßt ihn der Atem und sein Dasein ist zu Ende. Höchstens ein schemen haftes Wesen bleibt von der Seele übrig, das in dem Totenreich unter der Erde bei den Gespenstern (den Repha'îm »die Schwachen, Kraftlosen« der Phoeniker und Hebraeer) seinen Wohnsitz hat, eben da, wo man den leblosen Leib birgt. Es mag wohl einmal auf Erden umgehen und die Überlebenden schrecken; und ein mächtiger Zauberer, der die Toten zu bannen versteht, kann es vielleicht momentan wieder zum Leben erwecken; aber von der Welt der kraftvollen, lebenden Menschen ist es doch auf immer geschieden. Seinen Hunger und Durst zu stillen, bringt man ihm einige Opfergaben ans Grab, und im übrigen beklagt man den Tod durch eine Trauerfeier, bei der vor allem die Weiber sich schlagen und die Haare raufen, und man errichtet auf dem Grab einen Stein als Mal (neṣeb), in dem der Name des Toten fortlebt (vgl. Sam. II 18, 18) – es ist bezeichnend, daß die Aramaeer diese Grabstele, in der die Seele des Verstorbenen haust, direkt nepheš »Seele« nennen –; aber damit ist alles geschehen, was der Tote verlangen kann. Alle Unsterblichkeitsgedanken, alle Versuche, dem toten Leibe durch Zauber nach aegyptischer Art ein dauerndes Fortleben zu sichern, liegen den semitischen Vorstellungen völlig fern; dazu denkt man zu realistisch. Selbst noch Mohammed hat in einer Zeit, wo die entwickelten religiösen Anschauungen [414] der Kulturvölker weit in Arabien eingedrungen waren, mit seiner Predigt von der Auferstehung der Toten, d.h. der Wiederbelebung der Leichen, den stärksten Widerspruch gefunden, da ja der Tote eben tot ist; er hat sich nur durch eine Berufung auf die Wunder der göttlichen Allmacht zu helfen gewußt, die auch das unmöglich erscheinende möglich machen kann. Daher haben die Bestattungsgebräuche bei den Semiten niemals größere Bedeutung gewonnen; um so seltsamer ist es, daß moderne Forscher auch die semitische Religion aus dem Zeitdogma des Ahnenkultus haben ableiten wollen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 399-415.
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