Dions Ausgang. Scheitern des Reformversuchs. Auflösung des westgriechischen Reichs

[507] Die Befreiung Siziliens von der Tyrannenherrschaft war Dion und seiner kleinen Schar gelungen, zum Staunen der ganzen Welt, deren Augen gespannt auf die Vorgänge im Westen gerichtet waren. Aber Dion hatte bereits erfahren müssen, daß er damit nur den ersten und leichteren Teil seines Programms erfüllt habe; verglichen mit den Schwierigkeiten, die er jetzt zu überwinden hatte, mußte selbst Dionysios' Macht geringfügig erscheinen. Wie ein erfahrener Arzt, nach dem von Plato immer aufs neue wiederholten Gleichnis, das er ihm nach seinen ersten Erfolgen nochmals vorgehalten hat, sollte der wahre Staatsmann über der Masse der Bürger stehen, wegschneiden, was unbrauchbar war, und als Erziehungskur ihnen die richtigen Gesetze verordnen, die sie in wahre Staatsbürger umwandeln und einem jeden den Platz zuweisen würden, der ihm von Rechts wegen zukam. Dazu gehörte unermüdliche Selbstbeherrschung und Geduld; aber die Macht durfte er nicht aus den Händen geben, ehe sein Werk vollendet war. Daß die Toren ihn einen Tyrannen schalten, konnte den wahren Weisen so wenig berühren wie den Arzt das Geschrei der Kinder und des Pöbels, wenn er brennen und schneiden muß oder auch nur eine strenge Diät verlangt. Wenn dagegen andere von Dion behaupten, er habe »von einer Art spartanischen Königtums geträumt«, so war das völlig zutreffend – nur den Traum würden er und Plato nicht zugegeben haben –, aber in seinem Sinne kein Tadel, sondern das höchste Lob; trotz aller Gebrechen kam der spartanische Staat von allen bestehenden dem Ideal doch immer noch am nächsten. Wie die Menschen nun einmal sind, genügt die [507] Ehrfucht (αἰδώς) allein nicht, um den Gehorsam gegen die Gesetze zu erzwingen, und mögen sie noch so gut sein; es müssen die Zwangsmittel der staatlichen Gewalt, der Schrecken (φόβος), hinzukommen, wenn nicht die Begehrlichkeit und damit die Zwietracht ewiglich herrschen und jeden Ansatz zum Besseren ersticken soll. So lehrte Plato (vgl. ep. 7, 337a), wie einst Äschylos es ausgesprochen hatte, als man in Athen die Rechte des Areopags beschränkte (Bd. IV 1, 523, 1); das war die Richtschnur, nach der Dion zu handeln hatte956.

Für den Augenblick besaß Dion die Macht. Alle Ausschreitungen des Pöbels hielt er nieder, wie die Landaufteilung und die Schöpfung einer Flotte, so die Schleifung der Königsburg und die Zerstörung des Grabes des alten Dionys – war er doch trotz all seiner Gewalttaten der Befreier Siziliens gewesen. Dadurch gab er freilich der Opposition nur neue Nahrung; da Dion einmal vor Gewalttaten zurückschreckte, begann Heraklides trotz aller bei der Versöhnung geschworenen Eide aufs neue die Agitation. Er weigerte sich, im Rate des Regenten zu erscheinen; er sei ein einfacher Bürger und sein Platz in der Volksversammlung. Da endlich gab Dion dem Drängen seiner Anhänger nach, welche die Beseitigung des gefährlichen Mannes forderten; er ließ Heraklides ermorden957. Auch darin handelte er durchaus nach Platos Lehren: den unverbesserlichen Bürger aus der menschlichen Gesellschaft hinwegzutilgen, ist die Pflicht des wahren Staatsmanns. Freilich mußte er sofort empfinden, daß er damit seine Lage nicht gebessert, [508] sondern sich nur noch tiefer in den Widerspruch verstrickt habe: es mag ihm zum Bewußtsein gekommen sein, daß die Kluft zwischen der Theorie und der Praxis unüberbrückbar sei. Er ließ den Rivalen feierlich bestatten. Aber sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe mehr; mit wachen Augen sah er die Erinnys umgehen. Zudem mußte er, seit er erst einmal zur Gewalttat seine Zuflucht genommen hatte, die einzige feste Stütze seiner Macht, seine Söldner, ganz anders berücksichtigen als vorher: sie forderten und erhielten Landbesitz und waren damit doch nicht befriedigt. Auch weitere Hinrichtungen und Vermögenskonfiskationen waren unvermeidlich: der ideale König unterschied sich äußerlich in nichts mehr von dem verächtlichen Tyrannen. Überdies verfolgte ihn das Unglück in seiner Familie, mit der er eben erst, nach der Kapitulation, wieder vereinigt war; sein kaum erwachsener Sohn958, in den Lüsten der Tyrannenburg aufgewachsen, gab sich nach einem Streit mit dem Vater selbst den Tod. Es war der Vorbote der Katastrophe. Der vertrauteste Genosse Dions war Platos Schüler Kallippos von Athen (o. S. 499); je mehr die Seele des Regenten sich umdüsterte, desto mehr wußte er sich sein volles Vertrauen zu sichern. Aber Kallippos sah, daß hier Höheres zu gewinnen war als der Posten eines Ministers des konstitutionellen Königs, unter dessen Thron der Boden schwankte; insgeheim trat er mit den Mißvergnügten in Verbindung und wurde die Seele eines Komplotts zur Wiederherstellung der wahren Freiheit. Der Schwester und der Frau Dions, die ihn mit argwöhnischen Blicken verfolgten, schwor [509] er die heiligsten Eide; Dion selbst wollte von allen Warnungen nichts hören. Auch mochte er des Lebens überdrüssig sein, wo all seine Hoffnungen zusammengebrochen waren, und das Ende herbeisehnen. Während er in seinem Hause mit Freunden zusammensaß, wurden die Türen besetzt, die Mörder drangen herein; sie suchten Dion zu erwürgen; als das nicht gelang, ließen sie sich einen Dolch hereinreichen und stießen ihn nieder (353 v. Chr.)959.

Der neue Befreier wurde von den Syrakusanern mit Freuden begrüßt. Er tat, was zu erwarten war: er machte sich zum Tyrannen und versuchte alsbald auch die Nachbarstädte zu unterwerfen. Aber während er vor Katana lag, erhoben sich Dions Freunde, die nach einem gescheiterten Erhebungsversuch in Syrakus vor ihm nach Leontini entwichen waren, wie ehemals Dion selbst vor Heraklides. Sie fanden Unterstützung bei Hipparinos, dem Sohn des alten Dionys von Aristomache, der sich seinem Oheim Dion angeschlossen und nach seinem Tode offenbar in Leontini festgesetzt und sich auch eine Flotte verschafft hatte. Nach 13monatiger Herrschaft verlor Kallippos, während er Katana gewann, die Herrschaft über Syrakus (352)960. Die Dionische Partei wandte sich – so festgewurzelt war ihr Idealismus – noch einmal an Plato um Rat. Plato war durch das Scheitern des mit so stolzen Hoffnungen unternommenen Werkes und durch den Tod des Mannes, der seinem Herzen wie kein anderer nahegestanden hatte, mit tiefer Wehmut erfüllt961; und schwer lastete auf ihm der doppelte Vorwurf, daß er die Hand geboten habe zu einem Unternehmen, welches nur Unheil gezeitigt hatte, und der andere, daß [510] die Akademie sich so schlecht bewährt habe, daß aus ihren Reihen der schwärzeste Verräter hervorgegangen sei. Er benutzte den Anlaß, in einem großen offenen Briefe »an Dions Verwandte und Genossen« sich vor der Welt zu rechtfertigen. Aber in seinen Überzeugungen war er nicht erschüttert (vgl. o. S. 346. 359.): nur durch den festen Entschluß, die entsittlichende Lebensweise aufzugeben und sich den Gesetzen unterzuordnen, sei Besserung zu erreichen. Wenn die Sikelioten das nicht wollten, sei ihnen nicht zu helfen; wollten sie aber, so sollten sie eine Kommission von fünfzig der tüchtigsten und angesehensten Familienväter einsetzen, mit dem Auftrag, ohne Rücksicht auf die Parteien die Gesetze festzustellen. »Sind diese gegeben, so ist damit alles erreicht.« In einem zweiten Schreiben macht er in Dions Namen detailliertere Vorschläge. Drei konstitutionelle Könige, nach dem Vorbilde Spartas, solle man einsetzen: Hipparinos, den Sohn des Dionysios, den gleichnamigen Sohn Dions, und daneben, wenn er sich der neuen Ordnung fügen wolle, Dionysios II. Mit der Gesetzgebung sollen sie so wenig zu tun haben wie mit der Rechtsprechung, sondern im wesentlichen auf Ehrenrechte beschränkt werden; die eigentliche Leitung des Staats soll in den Händen einer Kommission von 35 Männern liegen, die auch über Leben und Tod Recht zu sprechen haben; die übrigen Richter sollen jedesmal aus denjenigen abgetretenen Beamten ernannt werden, welche sich am besten bewährt haben. – Es versteht sich von selbst, daß mit diesen Vorschlägen Syrakus nicht zu helfen war; der unverwüstliche Glaube an die Allmacht der Gesetze und die bewußte Beiseiteschiebung der im menschlichen Leben ausschlaggebenden Mächte, welche nicht mitsprechen sollen, wo es sich um die Gründung eines Staats handelt, tritt in ihnen noch einmal in seiner ganzen imponierenden Starrheit zutage. Tatsächlich hat in Syrakus Hipparinos das Regiment geführt so gut es gehen mochte, und als er 350 starb962, ist ihm sein Bruder Nysäos gefolgt963. Kallippos hatte [511] inzwischen zunächst noch einen Handstreich auf Messana versucht; dann hat er mit dem syrakusanischen Söldnerführer Leptines zusammen Rhegion dem Dionys entrissen, ist aber alsbald von seinen Genossen umgebracht worden (350)964. Währenddessen gründete sich Pharax eine Zeitlang an einer anderen Stelle (in Agrigent?) eine Herrschaft; in Tauromenion behauptete sich Andromachos (o. S. 497), in Katana ein oskischer Söldnerführer Mamerkos, in Leontini Hiketas, in Messana Hippon965. Dionys hatte sich inzwischen in Lokri festgesetzt und hier die Verfassung umgestoßen, die sein Vater in der treu verbündeten Stadt hatte bestehen lassen; nachdem man ihm seine schönen Absichten so mit Undank gelohnt hatte, gab er sich jetzt ganz dem Genußleben und den wüstesten Ausschweifungen hin. Schließlich im J. 346 gelang es ihm aufs neue, in Syrakus einzudringen und seinen Stiefbruder Nysäos zu verjagen; dafür empörten sich die Lokrer und nahmen grausame Rache an seinem Weib und seinen Kindern, die er hier zurückgelassen hatte966.

Das gewaltige Reich, das Dionysios I. gegründet hatte, war wieder in seine Bestandteile aufgelöst, und die alten Fehden von Stadt zu Stadt hatten aufs neue begonnen: das ist das einzige Ergebnis, welches der Versuch, den Despotismus durch etwas Besseres zu ersetzen, erreicht hat. Das eben ist die erschütternde Tragik des Unternehmens Dions: wie kaum je in der Weltgeschichte hat sich der Idealismus zu einem Kampfe erhoben gegen die realen Gewalten des Lebens, einem Kampfe, der nie siegreich enden konnte, wohl aber seinen Führer in Schuld und Sünde verstrickte und Verderben [512] schuf statt Segen. Es erfüllt mit tiefer Wehmut, zu sehen, wie Plato allen Erfahrungen zum Trotz – auch der Versuch seines Schülers Chion, Heraklea zu befreien, scheiterte im Jahre nach Dions Tode (o. S. 477) – unerschüttert an seinen Überzeugungen und an seinem Glauben festhält: das »Und dennoch!« klingt uns aus den »Gesetzen« überall vernehmlich entgegen. Aber Rettung bringen konnte der Weg nicht, den er wies, weil er für Men schen überhaupt nicht gangbar war, sondern, wenn überhaupt etwas, nur die Gewalt, die er bekämpft hatte: der rücksichtslos durchgreifende Despotismus. Das hat in der nächsten Generation Timoleons Unternehmen nochmals erwiesen, das trotz aller momentanen Erfolge dennoch haltbare und dauerhafte Zustände auf der Basis des republikanischen Partikularismus nicht zu schaffen vermochte, sondern nur den Übergang bildete zu einer zweiten, weit furchtbareren Erhebung des unitarischen Despotismus. – Die Folgen der Zerstörung des Reichs des Dionysios zeigten sich sofort. In Unteritalien sammelten sich im J. 356 Scharen von Hirtenknechten der Lukaner, Bruttier genannt967, halb Räuber und halb Krieger968, und gründeten einen eigenen Staat mit dem Mittelpunkt Consentia im Quellgebiet des Krathis, des Flusses von Thurii969. [513] Sie erwehrten sich der Angriffe der Lukaner und drangen erobernd gegen die griechischen Städte vor, die jetzt keine Macht mehr schirmte. Terina, Temesa, Hipponion an der Westküste fielen alsbald in ihre Hand, ebenso im Osten Sybaris am Traeis, auch Thurii wurde von ihnen angegriffen, hat sich aber noch behauptet970. – Dazu strömten nach wie vor Scharen von Oskern nach Sizilien, wo sich ihnen jetzt von neuem die Aussicht eröffnete, aus Soldknechten zu Herren des Landen zu werden; und auf der anderen Seite rüsteten sich die Karthager, die zur Zeit des ihnen befreundeten Dion Frieden gehalten hatten, die Anarchie zu benutzen, um abermals die Hand nach der Herrschaft über die ganze Insel auszustrecken. Es war so wie Plato im J. 352 schreibt (ep. 8, 353e): »Wenn es so weiter geht, so ist kein Ende abzusehen, bis die ganze Bevölkerung, Tyrannenfreunde wie Demokraten, zugrunde gegangen ist und in ganz Sizilien die griechische Sprache verschwindet, die Insel aber unter die Herrschaft und Gewalt der Phöniker oder der Osker fällt.« Ein Jahrhundert später war der Moment gekommen, wo diese Voraussagung sich erfüllt hat.

So bietet Griechenland dasselbe Bild in Ost und West. Jede Macht ist vernichtet, geblieben ist nur noch die Ohnmacht und der unabsehbare Hader im Inneren wie nach außen, der die Kraft der Nation verzehrt und aus sich selbst heraus niemals ein Ende finden kann. In derselben Zeit, wo die griechische Kultur ihr Höchstes geleistet hat und reif geworden ist, zur Weltkultur zu werden, hat die Nation politisch alle Bedeutung verloren. Sie ist in Stücke zerschlagen, und die Trümmer liegen da, eine leichte Beute für jeden, der sich bücken will, sie aufzuheben. Das ist der Ausgang der griechischen Geschichte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5.
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