Gaunertum

[255] Gaunertum. Das Wort Gauner taucht erst im 18. Jahrh. in der Form Jauner in Oberschwaben auf und wird bei norddeutschen Schriftstellern zu Gauner. Es stammt vom rotwelschen; im 15. und 16. Jahrhundert bedeutet der joner den Spieler, aus hebräisch jânâ = Gewalttätigkeit üben, übervorteilen, betrügen, überlisten. Das Gaunertum ist aus dem Bettlertum entstanden, uud dieses letztere, bei dem Rechtszustand der alten Germanen noch nicht möglich, geht vornehmlich hervor aus dem Missbranch des christlichen Gebotes der Mildthätigkeit gegen die Armen. Schon die Kapitularien Karls des Grossen warnen vor Bettlern und vor Hausierern, die unter dem Deckmantel kirchlicher Pönitenz im Lande umherschweifen und die Leute betrügen; auch von jüdischen und anderen Handelsleuten, welche Kirchenschätze von gewissenlosen und nachlässigen Wächtern aufzukaufen wissen, ist in denselben Rechtsquellen schon die Rede. Die Aufnahme der Städte, die zum Teil durch flüchtige Knechte veranlasst war, bewog viele Hörige zur Flucht, ohne dass sie deshalb in der Stadt wirklich Unterkunft fanden, wodurch sie bewogen wurden, das Landstreichertum entweder auf eigene Faust oder im Dienste eines räuberischen Adligen zu führen. Zu solchen gesellten sich fahrende Priester und Weiber, fahrende Kirchen- und Schullehrer, wandernde Handwerksgesellen, Marktschreier und Taschenspieler. Weitere Kontingente lieferten gerichtlich ehrlos Erklärte, Landesverwiesene, entlassene Reisige, Landsknechte, Zigeunerbanden und Juden. Sie nannten sich Kochemer oder Jenische, beide Bezeichnungen aus dem Hebräischen hergeleitet und so viel als Wissende, Männer des Wissens, Zünftige bedeutend. Ihre Wissenschaft war die Gaunerei, d.h. der Betrieb des Bettelns mit allerlei Künsten, die Verübung von Verbrechen, Diebstählen und namentlich Betrug und Prellerei durch Wahrsagen und Zauberei, Vorschützen von allerhand geistigen und[255] leiblichen Gebrechen. Ihr Treiben war in ein abergläubisches Dunkel gehüllt, mit dem sie sich umgaben. Ihre Sprache hatte sich im Verlaufe der Zeit sehr ausgebildet: jüdischdeutsch, zigeunerisch, Wörter aus den Dialekten fast aller europäischen Sprachen, selbsterfundene Witz- und Schlagwörter, deutsche Ausdrücke aus dem Volksleben sind der Inhalt dieser Sprache, welche von ihnen die Kochemer, die Jenische, die Lussenkaudische genannt wurde. Das Volk nannte die Gauner die Gilen, die Lahmen, die Bettler, ihre Sprache das Mengische, in der Schweiz auch das Pomperlusische.

Die erste genauere Nachricht über das Gaunertum kommt aus Basel. Hier befand sich nämlich »am Kohlenberg« eine Freistätte der Gilen und Lahmen, ein Vorrecht, das die »freie« Stadt Basel mit Augsburg, Hamburg und einer dritten (unbekannten) Stadt genoss. Die Bettler genossen hier besondere Privilegien, bildeten eine Korporation unter einem Hauptmann, standen unmittelbar unter dem Reichsvogt und hatten ihr eigenes Gericht. Es ist nun ein Aktenstück erhalten, entweder ein förmliches Mandat des Rates oder eine private oder amtliche, auf Untersuchungsakten gegründete Schrift, welche die Sitten und Gebräuche der Gilen und Lahmen des näheren auseinandersetzt; sie stammt etwa aus der Mitte des 15. Jahrh. Hier werden unterschieden: die Grautener, welche das fallende Weh erheucheln; die Valkentreiger, welche den blutig angestrichenen Arm in einer Schlinge tragen, als ob sie gefangen in Ringen gelegen wären; Brasseln, welche sich an den Beinen so verunstalten, als ob sie in den Stöcken gelegen wären; Klant, tragen Wachsstöcke und sagen, St. Niklaus habe ihnen aus dem Gefängnis geholfen, betteln für ein Opfer; Sumewerger, gehen mit langen Messern um, sagen, sie hätten in der Notwehr einen niedergeschlagen und sollten nun eine Summe Geldes zahlen, oder sie würden hingerichtet; Sumewergerin sind eheliche oder andere Weiber, die sagen, sie hätten der Sünde gefrönt und wollten sich bekehren, bitten um St. Maria Magdalena willen um ein Almosen; Bille, Weibsbilder, die sich mit alten »Wammetsch und Bletz under de Kleider« schwanger stellen, das heisst »mit der Billen gegangen«; Jungfrowe, Weiber, die Klappern tragen wie die Aussätzigen, das heisst »mit der Jungfrowen gangen«; Munische, Weiber, die sich als Begharden verstellen; Kusche Narunge, Weiber, die vorgeben, sie seien edler Herkunft, aber durch Krieg, Brand und Gefängnis ihrer Habe beraubt; Badune, die behaupten, sie seien Kaufleute, denen man ihr Kaufmannsgut geraubt; Vermerin, besonders Frauen, die sich als getaufte Juden ausgeben und den Leuten sagen, ob ihr Vater oder Mutter in der Hölle sei oder nicht; Thewerer, als Priester verkappte Gauner mit geschorener Platte und Monstranz, die den dritten Teil ihres Einkommens demjenigen geben, der ihnen dazu verholfen hat; Kammerierer, die an ihren Hüten besondere Zeichen von Ländern und Städten tragen, als ob sie dort gewesen wären; Gutzbeterin, die sich als Kindbetterinnen ausgeben; Sefer, die sich siech von langer Zeit her stellen; Blochard, die sich blind stellen und sagen, sie hätten ihren Kugelhut verloren; die Hüte, die man ihnen dann schenkt, verkaufen sie; Handblinden, sich blind stellende Gauner, Gott habe sie um einer Sünde willen geblendet, und sie kämen von fernen Wallfahrtsorten her; die mit dem Bruch wandelent, Gauner, die blutige Baumwolle übers Auge binden und behaupten, sie seien als Kaufleute oder Krämer in einem Walde überfallen und geblendet worden; Spanfelder, die sich halbnackt, zitternd vor[256] Kälte, vor die Kirchen legen; Vopper, Frauen oder Männer, die sich an eisernen Ketten führen lassen, als ob sie unsinnig wären; die Glatten, halb Gelehrte, die sich als beraubte und heimreisende Priester ausgeben und beten; Krachere, Leute, die Henker waren und behaupten, sie wollen sich bekehren, und doch wiederum Henker werden. »Und diese, so schliesst das Aktenstück mit einer Probe des Rotwelsch, die die da andeigent, das ist gegangen – uf dem Terich, das ist uf dem Lande – mit dem Klant und mit dem Lume, das ist mit Eisenhaltungen, als ob sie gefangen weren gewessen; – und wenn die zusammen kommen in die Pöse, d.i. in die Herberg, – so wollent sie haben ein Breitfuss, das ist ein Gans, – und Flughart, das sind Hüener – und Johanns gnug, d.i. der Wein; wenn sie denn verschechent werdent, das ist so si truncken werdent, so hebet sich ein Innen, dass ist ein Spilen – mit den Rüblingen, dass sint Würffel – wenn denn etliche verinnet, das ist verspilet, dass er nit me hat, so wil er Narunge anfachen, damitte so wird er wercken, dass ist verescht, dass er die schuder sichent gewar werdent, das sind die Amtblüte daselbs; – so wird er gebrukt in der Gabel, dass ist gefangen in der Statt, ist dass es umtich narung ist, dass ist bös, – so wirt er geflösselt oder gemögen, dass ist ertrenckt – ist es aber klein gefüege narung, die nit vast bösse ist, so schnidet man ime die Lüselinge ab, dass sint die Oren.«

Dieses Baslerische Gauner-Aktenstück wird nun die Quelle anderer Litteratur über das Gaunertum. In erster Linie gehört dazu der 73. Narr aus Sebastian Brants Narrenschiff, besonders aber das vielgedruckte und vielgelesene Buch Liber vagatorum, welches zwischen 1494 und 1499 wahrscheinlich zuerst in Basel erschien, die Basler Bekanntmachung systematisch redigierte und mit Zusätzen, Exempeln und einem alphabetisch geordneten Wörterbuche versah. Man hat als Verfasser auf Sebastian Brant geraten. Es erschienen zwischen den Jahren 1510 und 1529 acht hochdeutsche und eine niederdeutsche Ausgabe, von jenen acht eine in Knittelverse aufgelöst, eine vom Jahr 1524 von Luther besorgt und mit einer Vorrede ausgestattet. Andere Ausgaben, welche das Vokabular voranstellen, nennen sich Rotwelsche Grammatik; hier ist in späteren Ausgaben das Wörterverzeichnis bedeutend vermehrt worden. Die niederdeutsche Ausgabe des Liber vagatorum nennt sich Der bedeler orden und or vocubalar in rotwelsch. Eine Versifikation des Liber vagatorum hat auch Pamphilus Gengenbach in Basel veranstaltet.

Erst im 16. Jahrhundert organisierten sich die Gauner, deren Geschäft durch die Reformation und ohne Zweifel durch die Verbreitung des Liber vagatorum Einbusse erlitten hatte, zu geschlossenen, durch Eid verbundenen Banden, die es besonders auf Mordbrennerei abgesehen hatten, später zu eigentlichen Räuberbanden, an deren Spitze hervorragende Spitzbuben standen; besonders der dreissigjährige Krieg hat dieser Erscheinung Vorschub geleistet, vorher schon die Bauernkriege; sie haben Deutschland bis in dieses Jahrhundert hinein vielfach unsicher gemacht.

Zur Organisation des Gaunertums gehören seit alter Zeit geheime Verständigungszeichen, Zinken genannt; sie wurden und werden noch in die Rinde der Bäume, an Mauern, Wände, Brücken, sogar in den Schnee eingezeichnet oder eingeschnitten. Avé-Lallemant, Das deutsche Gaunertum. 4. Bde. Leipzig 1858 bis 1862. Vgl. die Artikel Juden, Kessler und Zigeuner.[257]

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 255-258.
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