Gudrun

[348] Gudrun, streng oberdeutsch Kudrun, ein mittelhochdeutsches Epos mit volkstümlichem Stoffe, wurde sehr wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gedichtet und hat in seinen Hauptzügen folgenden Inhalt:

1. Hagen, der Sohn des Königs von Irland (nicht zu verwechseln mit dem Hagen des Nibelungenliedes), wird seinen Eltern als siebenjähriges Kind durch einen Greifen entführt. Durch einen Zufall aus der Gewalt der jungen Greifen gerettet, findet er drei ebenfalls geraubte Königstöchter, welche ihn aufziehen. Ein gestrandetes Fahrzeug verschafft ihm Waffen, und jetzt erschlägt er die Greifen. Die Bemannung eines ankernden Schiffes wird von ihm bezwungen und führt ihn mit den drei Jungfrauen in seine Heimat, wo eine derselben, die schöne Hilde von Indien, seine Gattin wird und eine Tochter gebiert, welche ebenfalls den Namen Hilde erhält.

2. Hagen lässt alle Boten der Freier töten, da nur ein gleich mächtiger König seine Tochter heimführen soll. Der König Hetel von Hegelingen sendet drei seiner tüchtigsten Recken als Werber, den freigebigen Fruote, den liederreichen Horand und den kampfberühmten Wate. An Hagens Hof geben sie sich für Kaufleute aus; Wate setzt durch seine Fechtkunst alle in Staunen, Fruote durch seine Pracht, Horand durch seinen süssen Gesang, der die Tiere von ihrer Weide lockt, die Fische und Würmer ihrer Fährte vergessen macht und die Menschen entzückt. Hilde lässt den Sänger heimlich zu sich kommen, und so kann Hetels Werbung angebracht werden, welche bei der jungen Königin günstige Aufnahme findet. Eine List wird verabredet; die drei Recken bitten Hagen und die Seinen, ihre Schiffe zu besuchen und ihre Reichtümer zu bewundern. Kaum hat aber die Jungfrau ihren Fuss auf das Hauptschiff gesetzt, so fährt es vor den Augen ihrer Eltern ab und landet glücklich im Hegelingenlande. Hagen folgt ihnen, und es kommt zu einem hitzigen Kampfe, den Hilde scheidet, zu deren Vermählung Hagen endlich seine Einwilligung giebt.

3. Hilde gebiert den Ortwin und[348] eine wunderschöne Tochter, die Gudrun. Siegfried von Morland wirbt vergeblich um sie, ebenso wird Hartmuot von Ormanie abgewiesen. Auch dem Herwig von Seeland wird ihre Hand versagt; er aber dringt mit bewaffneter Macht in Hetels Land ein, und Gudrun macht dem Kampfe ein Ende, indem sie sich den Helden zum Bräutigam wählt.

Siegfried von Morland macht unterdessen einen verheerenden Einfall in die Lande Herwigs, welchem Hetel zu Hülfe eilt. Hartmuot benutzt diesen Augenblick, um im Hegelingenlande einzudringen. Er meldet Gudrun seine Ankunft, sie antwortet mit der Nachricht ihrer Verlobung mit Herwig, Hartmuot entführt sie aber mit Gewalt nebst ihrer Freundin Hildeburg. Siegfried, mit dem unterdessen ein ehrenvoller Friede geschlossen worden ist, erklärt sich bereit, Hetel und Herwig in der Wiedererlangung der geraubten Jungfrau zu unterstützen. Sie treffen die Räuber auf einer Insel, dem Wülpensande; vom Morgen bis zum Abend dauert der heisse Kampf, worin Hetel fällt. Hartmuot mit seinen Normannen benutzt die Nacht zur Flucht. Herwigs Leute sind zum grössten Teil gefallen; er muss von der Verfolgung abstehen, bis die junge Mannschaft zu einem kriegstüchtigen Heere heranwächst.

In seinem Reiche anlangend, sucht Ludwig die Jungfrau zur Verbindung mit seinem Sohne Hartmuot willfährig zu machen; sie weigert sich aber entschieden. Wütend erfasst er sie bei den Haaren und schleudert sie ins Wasser, aus dem sie indessen von Hartmuot gerettet wird. Um sie zu zwingen, der Werbung desselben Gehör zu schenken, werden ihr von seiner Mutter, der Gerlinde, die niedrigsten Arbeiten auferlegt, obwohl Hartmuot dies missbilligt; allein nichts kann sie bestimmen, von ihrer Treue zu weichen, weder Härte, noch gütiges Zureden. Täglich muss sie am Strande mit ihre Freundin Hildeburg Kleider waschen und so vergehen 13 Jahre in Not und Elend.

Unterdessen ist im Hegelingenlande gerüstet worden, und ein Engel verkündet Gudrun die nahende Hülfe. Herwig und Ortwin gehen gegen Abend als Kundschafter dem anrückenden Heere voran und treffen die beiden Jungfrauen, die trotz des tiefen Schnees auf Befehl der Gerlinde in blossen Füssen ihre Arbeit thun. Bald erkennen sie sich, Ortwin widersetzt sich aber einer ihrer unwürdigen Entführung; mit den Waffen in der Hand will er seine Schwester zurückholen. In ihrer Freude und im neu erwachten Stolze ihres königlichen Blutes wirft sie die Kleider, die sie waschen sollte, ins Meer. Wütend darüber lässt Gerlinde die Heimgekehrte an eine Bettstelle binden, um ihr die Haut vom Leibe zu schlagen, und Gudrun rettet sich von dieser schmachvollen Züchtigung nur durch das listige Versprechen, Hartmuot minnen zu wollen. Sie lässt ihn alles zur Hochzeit bereit machen und, um dadurch die Besatzung der Burg zu schwächen, veranlasst sie ihn, Boten nach seinen Dienstmannen zu senden.

Im Heere hat man wehklagend den Bericht der beiden Kundschafter vernommen; zornig ruft der alte Wate aus: »Alten Weibern ziemt das Jammern; wir wollen mit Blut die Kleider färben, die ihre weissen Hände gewaschen haben.« Die Morgenröte zeigt den Burgbewohnern die Heerhaufen vor den Thoren, und die Wappen verraten bald die nahenden Rächer. Ein Ausfall wird gewagt, Hartmuot verwundet Ortwin und Horand, Herwig erschlägt aber Ludwig, und Wate vertritt dem weichenden Hartmuot den Rückzug. Jetzt giebt Gerlinde alles verloren und will Gudrun in ihrer Wut töten lassen; allein Hartmuot sieht es und verhindert den Mörder durch[349] seine Drohungen. Hartmuot muss sich dem alten Wate gefangen geben, der nun in der Burg herumtobt und selbst die Kinder in den Wiegen nicht verschont. Gerlinde findet bei Gudrun Schutz, allein sie wird Wate verraten und samt ihren Dienerinnen niedergehauen. Froh kehren die Sieger heim, und vier Vermählungen schliessen die Erzählung: Ortwin erwählt sich auf den Rat Gudruns die Ortrun, Schwester Hartmuots, welcher die Hand der Hildeburg gewinnt; Siegfried erhält die Schwester Herwigs, und Gudruns ausharrende Treue wird durch ihre Verbindung mit dem geliebten Herwig gekrönt.

Der Stoff des Epos lässt deutlich drei Teile unterscheiden: 1. den Raub Hagens durch einen Greifen; 2. die Entführung seiner Tochter Hilde mit ihrer Zustimmung; 3. die Entführung der Tochter derselben wider ihren Willen und die endliche Belohnung ihres treuen Ausharrens.

Im ersten Teile haben wir keine besondere Sage zu suchen; es ist eine Hinzufügung des Dichters und verrät ganz den Geschmack seiner Zeit.

Der zweite Teil beruht auf der uralten Hildensage, deren Heimat vielleicht die nordischen Inseln, die Schetlands- und Orkneysinseln sind, von wo sie dann nach Norwegen und an die Nordseeküste gelangte. Wir haben sie im Nordischen überliefert in der jüngeren Edda (Skaldskaparmal, c. 50) und von Saxo Grammaticus (ed. Müller I, 1, 238), wobei die erstere Fassung zweifellos die ältere ist: Während König Högni zur Königsversammlung gezogen ist, wird ihm von Hedin, Hjarrands Sohn, seine Tochter Hilde entführt. Er verfolgt die Fliehenden bis zu den Orkneys, wo es zum Kampfe kommt, da Högni keine Busse annehmen will. Den ganzen Tag kämpfen sie, aber Abends erweckt Hilde mit Zauberliedern die Gefallenen wieder, am Morgen beginnt die Schlacht von neuem, und so wird es fortgehen bis zur Götterdämmerung.

Zeugnisse für das Bekanntsein dieser Sage haben wir in einem angelsächsischen Gedichte des achten Jahrhunderts. Bemerkenswert ist ferner eine umgestaltete Fassung der Sage in einer auf der Schetlandsinsel Fula gesungenen Ballade (vgl. C. Hofmann, Berichte der Münchner Akademie 1867, II, 205). Ob und wie auch andere Sagen, in denen Entführungen von Jungfrauen vorkommen, mit der Hildensage zusammenhängen, lässt sich nicht mit genügender Sicherheit bestimmen.

Der Ursprung der Hildensage ist wahrscheinlich in der Mythologie zu suchen. Die sich stets erneuernde Schlacht erinnert an die sich immer wiederholenden Kämpfe der Einherjar, der Heldenschar Odins, welche sich alle Tage in heissem Kampfe gegeneinander üben und jeden Abend, von allen Wunden geheilt, zu neuer Waffenübung ausruhen. Wenn die Götterdämmerung anbricht, dann werden sie unter Odins Führung den Kampf gegen die bösen Mächte der Finsternis aufnehmen. Ihre sich stets wiederholenden Waffenübungen beruhen auf dem Wechsel von Tag und Nacht. Der Raub der schönen Jungfrau aus der Gewalt des harten Vaters deutet auf die Erlösung der frühlingsfrischen Natur aus den Banden der Winterriesen.

Die Gudrunsage, welche dem dritten Teile zu Grunde liegt, stammt aus der Gegend der Rhein- und Scheldemündung. Man hat sie gewöhnlich für eine verändernde Weiterbildung der Hildensage angesehen, indessen sind die inneren Verschiedenheiten doch zu gross und die Konsequenzen dieser Annahme zu bedenklich. Man thut am besten die Gudrunsage als selbständig zu betrachten, wobei immerhin Einzelheiten von einer [350] Sage in die andere gedrungen sein können.

Die Zeugnisse ihres Bekanntseins sind sehr dürftig. Gudrun kommt als Taufname in Oberdeutschland seit dem Ende des 11. Jahrhunderts einigemal vor; ferner beziehen sich auf diesen Sagenstoff drei Balladen, welche in Gottschee an der Save gesungen werden, und welche von den deutschen Einwanderern im 12. Jahrhundert aus ihrer Heimat am Niederrhein mitgebracht wurden. Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht, Vers 1830–1838 spielt auf ein schwungvolles Gudrungedicht an, welches sich offenbar einigermassen an die Hildensage angelehnt hatte.

Den Ursprung der Sage in der Mythologie zu suchen, berechtigt uns nichts; Müllenhoff (Haupts Zeitschr. VI, 67) zeigt, dass der riesische Wate der Sage ursprüngfremd ist. Es ist also eine historische Grundlage anzunehmen. Widmann macht auf die Schicksale der zweiten Gemahlin Ottos I., Adelheid, aufmerksam.

Die Entstehung des Gedichtes hat man sich also etwa so zu denken. Auf den nordischen Inseln ihren Ursprung nehmend, wanderte die Hildensage nach Norwegen (nicht vor dem 10. Jahrhundert) und viel früher schon an die niederdeutsche Küste, von wo sie sich in balladenartigen Liedern den Rhein hinauf bis nach Oberdeutschland verbreitete; freilich ist sie daselbst erst um 1100 bezeugt. Die Gudrunsage, an den Mündungen von Rhein und Schelde entstanden, drang von da nach Oberdeutschland, wo sie gegen das Ende des 11. Jahrhunderts volkstümlich gewesen sein muss. Etwa in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts dichtete dann ein nicht nachgewiesener Dichter vermutlich in Steiermark die Gudrun, indem er beide Sagen verband und eine Vorgeschichte im Geschmack der damaligen Zeit hinzufügte. Er nahm sich offenbar das Nibelungenlied zum Vorbild. Die Frage, ob wir es, wie es Lachmanns Ansicht in betreff des Nibelungenlieds war, bloss mit einem Konglomerat von einzelnen Liedern oder mit einer einheitlichen Dichtung zu thun haben, ist entschieden dahin beantwortet worden, dass ein einziger das ganze Werk dichtete, welches später namentlich zum Zweck der Erzeugung von Binnenreimen roh überarbeitet und interpoliert wurde. Ettmüller, darauf mit sorgfältiger Kritik Müllenhoff, versuchten die zu Grunde liegenden Lieder aus der überlieferten Gestalt herauszuschälen; die Zuverlässlichkeit des Resultates wurde aber von Bartsch (Germania IX, 41 und 148) und Willmanns (Die Entwickelung der Gudrundichtung, Halle 1873) bestritten.

Die Form der Strophe ist der Nibelungenstrophe nachgebildet, und die Veränderungen bestehen darin, dass die dritte Langzeile einen klingenden Schluss erhalten hat, während die vierte durch eine Hebung vermehrt wurde und ebenfalls klingend schliesst. Diese Gudrunstrophe wurde von Wolfram von Eschenbach im Titurel etwas umgeändert verwendet. Zuweilen erscheinen in der Gudrun auch solche Strophen, deren letzte Zeile zu kurz ist, ausserdem aber auch 98 Nibelungenstrophen. Die ersteren erklären sich durch die Ungenauigkeit der Schreiber; die letzteren will Martin entfernen, während Bartsch sie dem seiner neuen Form noch ungewohnten Dichter zuschreibt.

Nur eine einzige Handschrift hat uns das Gedicht erhalten. Es ist eine Handschrift aus dem Schlosse Ambras und enthält das sogenannte Heldenbuch an der Etsch, welches Hans Ried, Zolleinnehmer am Eisack in Botzen, auf Befehl des Kaisers Maximilian I. von 1502 bis 1515 schrieb. Die Überlieferung ist sehr fehlerhaft.[351]

Der Umstand, dass das Gedicht nur in einer Handschrift erhalten ist, während eine so vielfältige Überlieferung das Nibelungenlied bewahrt hat, zeigt, dass die Gudrun nicht viel gelesen und abgeschrieben wurde. Und doch ist es einer der kostbarsten Überreste unseres poetischen Altertums, ein ebenbürtiges Seitenstück zum Nibelungenliede. Man hat diese beiden Epen in vielen Beziehungen sehr treffend mit Ilias und Odyssee verglichen; wie die letztere ist auch die Gudrun ein häusliches Epos, und wie der Grundton des Nibelungenliedes ein tief tragischer ist (als ie diu liebe leide an dem ende gerne gît), so baut sich die Gudrun auf den Gedanken auf, dass die leide zuletzt mit liebe lohnt, dass treues Ausharren in Elend und Erniedrigung am Ende gekrönt wird, auf denselben Gedanken, der auch der Odyssee zu Grunde liegt.

Die Litteratur der Gudrunforschung findet sich am vollständigsten verzeichnet in Ersch u. Gruber. Band 96, 142. Ausgaben von Bartsch, Gudrun, Leipzig, 3. Auflage 1874, und von Martin, Gudrun, Halle 1872.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 348-352.
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