Abstraktion

[59] Abstraktion (lat., wörtlich »Abziehung«) bedeutet im Gegensatze zur Determination (s. d.) diejenige Geistestätigkeit, durch die aus einem Vorstellungsganzen (z. B. der Vorstellung eines Einzeldinges) ein oder mehrere Bestandteile abgesondert und für sich zum Gegenstande des Denkens gemacht werden. Die A. in diesem allgemeinsten Sinn ist die Grundlage und Voraussetzung alles Denkens, da dasselbe von vornherein die Wirklichkeit nur dadurch auffassen kann, daß es aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Eigenschaften und Beziehungen der Dinge einzelne heraushebt und zum Inhalt seiner Begriffe von den Dingen macht. Weiterhin aber bemächtigt sich die A. auch der Begriffe selbst und erzeugt aus ihnen neue, natürlich inhaltsärmere Begriffe. Dabei kann das Verfahren ein doppeltes sein, je nachdem die bloße Unterscheidung der Bestimmungen eines Objekts oder Begriffs oder die Vergleichung desselben mit andern Veranlassung zu der abstrahierenden Begriffsbildung gibt. Auf dem erstern Wege der isolierenden A. gelangen wir z. B. zur begrifflichen Bestimmung der einzelnen (in Wirklichkeit verbundenen) Eigenschaften eines Dinges; dagegen kommt die vergleichende A. vorzugsweise bei der Klassifikation (s. d.) der Naturgegenstände zur Geltung, indem die Begriffe der Arten, Gattungen etc. durch stufenweise A. des einer Mehrzahl von Objekten Gemeinsamen entwickelt werden. Es ist im Wesen der A. begründet, wenn man die abstrakte Betrachtungsweise im allgemeinen als eine einseitige ansieht, die dem vollen Inhalte der Wirklichkeit nicht gerecht wird, aber doch kann das Denken nur auf diesem Weg in die Zusammenhänge der Dinge allmählich eindringen. Während also im allgemeinsten Sinne jeder Begriff abstrakt genannt werden könnte, so wird doch gewöhnlich diese Bezeichnung auf solche Begriffe eingeschränkt, die sich nicht auf Dinge, sondern auf Eigenschaften, Zustände oder Beziehungen von Dingen beziehen, und deren Inhalt also nicht selbst als ein Seiendes, sondern nur als Bestimmung eines Seienden vorgestellt werden kann. Der Gegensatz ist konkret (s. d.). Vgl. Begriff, Generalisation.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 59.
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